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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Graten des Gebirges wie eine Lampe am Bett eines Kindes, das böse geträumt hat – ein trautes Nachtlicht, in dessen beruhigendem, tröstlichem Schein alle Schrecken und alle Gespenster, aber auch alle Schönheiten der Finsternis verblaßten.

Sturz aus der Nacht
    Ich sah Tausende glimmende Lichter am Nachthimmel über Jaipur. Als ob ausgerechnet über der Hauptstadt des nordindischen Wüstenstaates Rajasthan ein zweites Firmament als schützendes Netz vor die beängstigenden Tiefen des Alls mit ihren an die Ewigkeit grenzenden, leeren Räumen ausgespannt worden wäre, gaukelten, schwebten, tanzten diese Lichter in einer mondlosen Finsternis, entfernten sich voneinander, glitten wieder aufeinander zu und verbanden sich für die Dauer einiger Herzschläge zu flüchtigen, nie gesehenen Sternbildern. Wenn eines dieser zahllosen Lichter von einer unsichtbaren Kraft plötzlich aus seiner chaotischen Bahn gesprengt wurde, dann auf die nächtliche Stadt zustürzte und im Fallen wie ein Meteor verglühte, waren in der Dunkelheit Kichern zu hören, Gelächter und Schreie; Triumphschreie.
    Ich saß in dieser klaren, milden Januarnacht auf dem Flachdach eines Guest House nahe dem
Hawa Mahal
, dem Palast der Winde, einem Lustschloß aus der Zeit der Rajputen, und verfolgte das Himmelsschauspiel gemeinsam mit einem großen, auf den Flachdächern der Stadt versammelten Publikum, einem Heer von Schemen, das sich in der Dunkelheit verlor.
    Jaipur feierte in dieser Nacht den Höhepunkt eines dreitägigen Festes,
Makar Sankranti
, den Beginn einer neuen Zeit. Denn in diesen Tagen neigte sich die Sonnenbahn an einem von den Astronomen auf die Sekunde vorausberechneten Wendepunkt wieder nach Norden und begann damit einmal mehr jenes Sternbild zu durchlaufen, zu dem die Himmelsbeobachter des Abendlandes als
Steinbock
aufsahen, das in der hinduistischen Welt aber den Namen eines mythischen Wasserwesens trug:
Makara.
Die Flußgöttin Ganga war auf einem Zwitterwesen dieses Namens, das auf unzähligen Darstellungen einmal einem Krokodil, dann wieder einem Delphin, einem elefantenköpfigen Fisch oder auch einem Seepferd glich, geritten, als sie dem heiligen Strom Ganges befohlen hatte, aus der Welt der Götter in die der Menschen zu fließen. Wenn die Sonne die nach Makara benannte Sternenkonstellation erreichte, war der Winter vorüber, wurden die Tage wieder länger, konnten die Zuckerrohrfelder süße Ernte tragen und wurde nicht nur die Erde, sondern der Himmel selbst mit Papier und Seide geschmückt.
    Denn in Jaipur und in so vielen anderen Städten Nordindiens stiegen dann zur Feier der Sonnenwende Hunderttausende, ja Millionen von Drachen aus Papier und Seide in den Himmel, Flugwesen aller Größen, Gestalten und Farben. Und wenn die Sonne an diesen Festtagen sank, um am nächsten Morgen einige Atemzüge früher als am Vortag wiederzukehren, wurden an den straffen Steigleinen winzige Öllämpchen befestigt und so glimmende, flackernde Sterne, ein zweites, von Menschenhand entzündetes Firmament, an den Himmel gehängt.
    Dabei rückten die Drachenlenker den Sternen auch selber ein Stück näher, wenn sie ihre Hunderte Meter langen Leinen auf den Dächern der Stadt von Spindeln aus Holz und Plastik abrollen ließen. Nur auf den Dächern wurde der zu ebener Erde vom Straßen- und Gassengewirr vergitterte, in Streifen zerteilte Himmel groß genug, weit genug, um ihn als Jagd- und Spielplatz zu überschauen, vielleicht sogar zu beherrschen. Denn zu Makar Sankranti genügte es nicht, seinen Drachen bloß höher und höher steigen zu lassen, sondern im Aufstieg mußten anderen Drachenlenkern die höchsten Höhen auch noch streitig gemacht oder, wenn sie den Zenit bereits besetzt hielten, abgejagt werden.
    Deshalb wurden Drachenschnüre mit Leim bestrichen und mit Glasstaub und rasiermesserscharfen Splittern bewehrt und so in Schnursägen verwandelt, mit denen die Leine eines Gegners durchtrennt und sein Drachen
befreit
werden konnte, zum Absturz gebracht. Die kunstvollen Gebilde aus Seide und Papier, die dann zur Erde taumelten und auf Dächern, in Baumkronen, im funkensprühenden Gewirr elektrischer Leitungen oder auf den staubigen Feldern weit draußen vor der Stadt aufschlugen, zerrissen und zerbrachen, waren Himmelsstrandgut und wurden zur Beute von Kindern und jenen Ärmsten, denen das Geld selbst für Spielzeug aus Papier fehlte. Mit ihren Trophäen behängt, zogen manche von diesen Strandgutsammlern singend durch die Gassen oder

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