Atlas eines ängstlichen Mannes
ließen ihre noch flugtaugliche Beute an zusammengeknüpften Schnurresten wieder steigen.
Es gab ja Drachenlenker, hatte mir der Besitzer des Guest House gesagt, ein vor dem Bürgerkrieg aus Kaschmir geflüchteter Wollhändler, die davon überzeugt waren, daß mit jeder durchgesägten Schnur, jedem befreiten Drachen einer Seele auf dem Weg durch das Labyrinth der Inkarnationen eine Wiedergeburt erspart werde … aber für die meisten sei, was am Himmel zu Makar Sankranti geschah, wohl doch nur ein Spiel. Wenn nur jeder Zehnte, hatte der Wollhändler gesagt, nur jeder Zehnte der fast zweihundertfünfzig Millionen Einwohner der nordindischen Bundesstaaten Rajasthan, Maharashtra und Gujarat zu Makar Sankranti einen Drachen steigen ließe – und das sei gewiß zu niedrig gegriffen –, ergäbe das immerhin eine theoretische Ersparnis von fünfundzwanzig Millionen Wiedergeburten.
Ich konnte in der Dunkelheit kaum erkennen, wer von den vielen Gestalten auf den umliegenden Dächern als Zuschauer bloß gegen den Nachthimmel zeigte und wer als Drachenlenker an einer Leine zog oder sie über einen schützenden Handschuh laufen ließ, aber dem Beifall und Jubel nach mußte wohl gerade einer der Schemen auf dem Nachbardach triumphiert haben, denn in einiger Entfernung war ein fallendes Licht zu sehen, dann auch ein brennender Drache, der auf einer mit Wäsche behängten Terrasse aufschlug und dort unter Fußtritten erlosch.
Und plötzlich stürzte noch etwas aus der Finsternis und fiel unter die Menschen, ein schwarzer, geflügelter Schatten, der zunächst einen Entsetzensschrei, dann aber erleichtertes Gelächter auslöste. Im Schein einer nach den Schrecksekunden aufflammenden Taschenlampe lag vor einem dunklen, spiegelnden Rinnsal, das wohl Blut war, einer jener Flughunde, die, übergroßen Fledermäusen ähnlich, tagsüber zu Hunderten kopfüber und in ihre schwarzen Flügel gehüllt, in den Kronen ihrer Schlafbäume hingen. Wenn sie in der Dämmerung ausschwärmten, konnten sie den Himmelsstreifen über der Gasse vor dem Guest House verfinstern.
Die Flügelspannweite des Abgestürzten mußte mehr als einen Meter betragen. Er flatterte in Panik aber nur mit einer seiner großen Fledermausschwingen; die zweite war grotesk verdreht und eingerissen, die Flügelknochen gewiß gebrochen. Flughunden wurde nachgesagt, daß sie ihren Durst mit Meerwasser löschten, aber auch, daß sie sich als Vampire von Menschenblut ernährten. Dabei fraßen sie trotz ihrer Hundeschnauze nur Früchte, Blüten, Pollen und machten auf kein einziges Wesen zu Erde, Wasser oder zu Luft Jagd. Und sie verfügten auch über keine Ultraschallortung wie die jagenden Fledermäuse. Vielleicht hatte sich der Gestürzte auch aus diesem Mangel an einer oder gleich mehreren der am Nachthimmel ausgespannten Drachenschnüre verletzt.
Im Gewirr dieser Schnursägen fielen zu Makar Sankranti Jahr für Jahr aber nicht nur Flughunde, sondern ganze Vogelschwärme vom Himmel, Geier, Falken, Kormorane, Ibisse, Reiher und Flamingos, und es fielen auch Drachenlenker, die nur Augen für ihre Luftkämpfe hatten, von Terrassen und Flachdächern in die Tiefe, und immer wieder geschah es auch, daß die straff gespannten Schnursägen die Halsschlagader eines in den grellbunten oder sternenübersäten Himmel starrenden Festgastes oder Drachenlenkers durchschnitten. Elf Tote, hatte der Wollhändler aus Kaschmir gesagt, elf Tote allein im vergangenen Jahr.
Der gefallene Flughund aber sollte, durfte an diesem letzten Festtag nicht zum Opfer werden. Die Aufmerksamkeit der meisten Gäste auf dem Nachbardach wie auf dem Dach des Guest House galt bereits wieder dem Geschehen am Himmel, als ich zwei Mädchen sah, die das nur noch müde flatternde Tier behutsam aufhoben, den verletzten Flügel im Schein einer Öllampe behutsam entfalteten und das Tier dabei für einen Augenblick aussehen ließen wie einen Drachen, der darauf vorbereitet wurde, wieder in den Himmel zu steigen.
Die Mädchen fielen sich immer wieder gegenseitig in den Arm und ermahnten sich zu größerer und noch größerer Vorsicht, als sie den eingerissenen Flügel mit einem hellen Pulver bestäubten, wieder falteten und an den pelzigen Körper legten. Dann wickelten sie das schreckensstarre oder tatsächlich beruhigte, vielleicht aber auch sterbende Tier bis zum Kopf in ein von schimmernden Fäden durchwirktes Tuch und wiegten es wie einen Säugling oder eine Puppe in den Armen. Fünf, sechs Schritte durfte ein
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