Atlas eines ängstlichen Mannes
barfuß von der Klavierbank auf den tiefblauen, mit Wellen gemusterten Teppich glitt. In der plötzlichen Stille wurden die Stimmen der auf Sofas und in Fauteuils plaudernden Hotelgäste wieder hörbar, vor allem aber, wenn auch durch die Glaswand gedämpft, die Zikadenchöre.
Behutsam schloß der kleine Mann die Tastaturklappe, schlüpfte in Sandalen, die unter der Klavierbank bereitlagen, und trippelte, seine Stelzen unter dem Arm, durch das Foyer in Richtung Garten, der jenseits einer weiteren Glasfront lag. Durch diesen Spiegel trat er ins Freie.
Der Garten, angelegt wie ein Amphitheater, das den Hotelbau sanft ansteigend umschloß, erhob sich in Terrassen bis zu einem Horizont, der kaum dreißig Meter entfernt war und dennoch in weiter Ferne zu liegen schien – waren doch die einzelnen Stufen mit Sträuchern und Bäumen, Blütenkirsche und Rotem Ahorn, bepflanzt, die von unten nach oben kleiner und kleiner wurden, bis sich schließlich an der Horizontlinie nur noch Zwergbäume erhoben, Bonsais. Was jenseits dieses Horizonts lag, über dem sich die Wolkenbänder eines blaßblauen Oktoberhimmels dehnten, war nicht zu sehen.
Der kleine Mann wanderte dieser Ferne entgegen, vielleicht, um an einem schattigen Platz eine Zigarette zu rauchen, oder auch, um ein verborgenes Personalquartier aufzusuchen, in dem er seinen schwarzen, westlichen Anzug gegen
Wafuku
, bequeme japanische Kleidung, tauschen konnte. Und während er langsam höher stieg, wurde er vor den entlang seines Weges schrumpfenden, eine dramatische Fluchtlinie säumenden Sträuchern und Bäumen größer und größer, bis er schließlich, ein Riese, den Horizont erreichte. Dort beugte er sich zu einem Bonsai hinab, als habe er in seinen Zweigen eine Entdeckung gemacht.
Wenn er dort eine Zikade sah, die bei seiner Annäherung verstummt war, dann mußte sie im zierlichen Geäst und winzigen Blattwerk wie ein urzeitliches Tier erscheinen, so groß und so scheu, daß es eines ganzen Baumes bedurfte, wenn es sich verbergen wollte, um zu singen.
Das Glück und der Stille Ozean
Ich sah einen Losverkäufer in einer sonntäglich leeren Straße der chilenischen Pazifikstadt Valparaíso. Nur wenige Spaziergänger schlenderten an diesem spätsommerlich warmen Nachmittag an den geschlossenen Portalen jener Banken vorüber, deren säulengeschmückte und verspiegelte Fassaden sich hier aneinanderreihten, als sei dem Geschäft mit dem Geld und der Organisation des Reichtums die
Antigua Calle de la Aduana
als ausschließliche Adresse in dieser Stadt an der Küste des Stillen Ozeans zugewiesen worden; ein Ghetto.
Nur die obersten Etagen der höchsten Geldpaläste ragten, von seltsam stummen Möwenschwärmen aus dem nahen Hafen umflattert, aus dem tiefen Schatten, in dem beide Straßenseiten zu dieser Stunde bereits lagen, in einen von Federwolken gestreiften Himmel. Die mit imperialem Zierat verschiedenster Baustile geschmückten Portale und Treppenaufgänge aber waren längst ohne Sonne: ohne Sonne die
Banco Santander
, ohne Sonne die
Banco Itaú
, die
Banco Bilbao Vizcaya Argentaria
, die
Banco Fácil
, die
Scotiabank
und die
Banco de Chile
und die
Banco Estado
– ein Schattenreich. Und die Reihen spiegelnder Fenster und Flügeltüren wie für immer geschlossen, versiegelt wie Tatorte eines Verbrechens.
Obwohl die wenigen Spaziergänger und Passanten, mögliche Kundschaft, in dieser Fassadenschlucht noch weit, viel zu weit entfernt waren für seine dünne Stimme, pries ein Losverkäufer, der von Bankportal zu Bankportal der großen, noch in der Spätnachmittagssonne liegenden Plaza Sotomayor entgegenging, das Glück der Lotterie in einem monotonen Singsang ohne besondere Lautstärke, so, als wiederholte er seine Wahrheiten bloß zur Einübung und mehr für sich selbst als für einen Käufer jener Lose, die er auf Schnüre gefädelt als bunte Papiergirlanden um den Hals trug. Auf seinem Kopf saß eine schwarze Perücke wie eine Haube oder ein Hut, und an seinem rechten Arm schwang er eine Krücke, die er als Halt oder Stütze nicht zu benötigen schien, manchmal wie einen Taktstock.
Keine heiße Luft, kein Betrug, kein Schwindel, rief er,
sang
er, während er ohne erkennbare Gehbehinderung durch das Reich des Geldes zog, vor manchen Prunkportalen und Treppenaufgängen stehenblieb und dann mit seiner Krücke zu einem goldglänzenden Namen oder dem meterhohen Geschäftsschild einer hier residierenden Bankgesellschaft emporzeigte: Keine faulen Geschäfte mit dem
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