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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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auch immer gezeigt und damit eine Entscheidung bekräftigt oder irgendein Ereignis der Zukunft bestimmt hatte – nun zeigte jedenfalls die vom Münzwerfer erhoffte, die richtige Seite nach oben. Und während auf den Bohlen des Stegs das Trampeln zu spät kommender Aufseher oder Ordner laut wurde, stieg der Wanderer tropfend aus dem Zisternenwasser, lächelnd, als einer, der die Götter zwar befragen, sich ihrem Spruch aber nicht beugen wollte. Er hatte mit der versunkenen Münze sein Schicksal in die Hand genommen. Und er hatte dieses Schicksal unter den an Dunkelheit und Finsternis gewöhnten Augen bleicher Karpfen und Goldfische und zum Erschrecken einiger Tagesgäste in der Unterwelt – gewendet.

Die Schönheit der Finsternis
    Ich sah eine Spiralgalaxis im Sternbild
Haar der Berenike
, einem unscheinbaren Himmelsareal, das im dritten vorchristlichen Jahrhundert vom griechischen Astronomen Kólon von Samos nach einer Pharaonin benannt worden war: Berenike hatte gelobt, ihr goldschimmerndes Haar zu opfern, wenn ihr Gemahl unversehrt aus seinem Krieg gegen die Assyrer zurückkehren würde. Der Pharao kehrte als Sieger heim, und Berenike legte die Strähnen ihres abgeschnittenen Haares einer Statue der Göttin der Liebe zu Füßen. Als die Opfergabe über Nacht verschwand, zeigte der griechische Hofastronom dem wütenden Pharao, der an einen Diebstahl glaubte, drei Sterne am Himmel der folgenden Nacht und sagte, die Göttin Aphrodite habe das Opfer seiner Gemahlin angenommen, das geopferte Goldhaar in diese Sterne verwandelt und an den Himmel gehängt.
    Der schwache, aus dem Licht von Abermilliarden Sonnen bestehende Glanz der Spiralgalaxis im Haar der Berenike brauchte nach letzten, noch umstrittenen, astronomischen Messungen vierundvierzig Millionen Jahre, um aus der Tiefe des Raumes auf die Spiegel meines Teleskops zu treffen. Im Okular erschien ihre Ellipse wie ein leuchtendes, von einem dunklen Lid verhängtes Auge, das sich eben zu öffnen – oder zu schließen schien. Allein die Länge dieses Augenlids, eines sichelförmigen Bandes aus dunkler Materie, Gasschleiern und Sternenstaub, sollte mehr als fünftausend Lichtjahre betragen: auch dieses Maß galt als umstritten. Ich fluchte.
    Ich saß in dieser Nacht der Sommersonnenwende auf einer weiten Lichtung des Hochwaldes am Rand des oberösterreichischen Höllengebirges unter einem mondlosen, von Sternen übersäten Himmel hinter meinen Teleskopen und fluchte so laut, daß die Verwünschungen von einer Mauer schwarzer Bergfichten zurückschlugen. Von den Kühen, die als schwarze Inseln in der kaum helleren Weite der Almwiesen wiederkäuend lagen oder schliefen, war in der nächtlichen Stille nur ein gelegentliches tiefes Seufzen zu hören.
    Es hatte durch atmosphärische Turbulenzen und den Ausfall eines Navigationssystems an meinem astronomischen Gerät eine Weile gedauert, bis ich die Linsen und Spiegel meiner beiden Teleskope, mit Sucherfernrohren von Richtstern zu Richtstern gleitend, nach den Koordinaten dieser fernen Galaxis ausgerichtet hatte, die in verschiedenen Sternkatalogen so bildhafte Namen trug wie
Black Eye Galaxy
,
Evil Eye Galaxy
oder
Sleeping Beauty
 – Blaues Auge, Teufelsauge, Schlafende Schönheit …
    Drei Astronomen des späten achtzehnten Jahrhunderts, der Engländer Edward Pigott, der Deutsche Johann Elert Bode und der Franzose Charles Messier, hatten diese Schönheit innerhalb eines Jahres unabhängig voneinander in der Tiefe eines nahezu leeren Raumes beobachtet, aber nur Messier hatte sie mit dem ersten Buchstaben seines Namens und einer fortlaufenden Nummer aus der langen Reihe aller von ihm entdeckten Himmelsnebel und Galaxien getauft:
M 64
.
    Bei Anbruch der astronomischen Dämmerung zur kürzesten Nacht des Jahres hatte ich meine Fernrohre – ein zentnerschweres Schmidt-Cassegrain-Spiegelteleskop und einen kaum leichteren apochromatischen Refraktor – auf einer erschütterungsfreien, gemauerten Plattform neben einer Almhütte aufgebaut und sie vor der Neugier des Weideviehs mit einem Drahtzaun geschützt. Ich wollte den Himmel der Sommersonnenwende durchstreifen, bis der Mond aufging, um dann in seinem hohen Norden das
Meer der Kälte
und an dessen Ostufer die Krater Atlas und Herkules zu besuchen.
    Ich hatte in dieser milden Sommernacht bereits die Areale des Skorpions und des Schlangenträgers und dort Doppelsterne, Kugelsternhaufen und planetarische Nebel angesteuert und war dabei allmählich und einmal mehr in

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