Atlas eines ängstlichen Mannes
Mädchen den Flughund nur tragen, bevor es das bewegungslose Bündel wieder an die Freundin abgeben mußte. Ich stellte mir vor, nein: ich wünschte mir, der Gestürzte und nun so liebevoll, ja ehrfürchtig Behütete wäre in den Armen eines der Mädchen bloß vertrauensvoll eingeschlafen und nicht deswegen so still und bewegungslos, weil er bereits für immer von allen Bindungen an die Erde gelöst war, als er über eine Treppenleiter in die dunkle Gasse hinabgetragen wurde.
Der Pianist
Ich sah einen Konzertflügel hinter der blauen Glasfront meines Hotels am Rand der Sankei-Gärten in Yokohama. Platanen und Ahornbäume spiegelten sich in dieser Front und ließen den flüchtigen Eindruck entstehen, das Klavier stünde in einer windbewegten Allee. Es war Oktober und die schwüle Herbstluft erfüllt von den schrillen Chören der Singzikaden, ohrenbetäubenden Chören, in denen der Verkehrslärm ebenso unterging wie das Rauschen des Blattwerks, in dem sich die Sänger zu Tausenden verbargen. Ich sah mein Spiegelbild aus dem getönten Glas auf mich zukommen, von dem der Zikadengesang zurückschlug, als schrillte auch er nicht aus den Baumkronen in meinem Rücken, sondern in der gespiegelten Allee.
Der Rezeptionist, ein ehemaliger Lehrer aus Nagoya, der in Kunstharz eingegossene Zikaden als Briefbeschwerer verkaufte, hatte mir gesagt, daß die Larven mancher Arten dieser Sänger sieben, dreizehn, ja siebzehn Jahre unter der Erde verbrachten, dabei Hülle um Hülle der Verwandlung einer kriechenden Larve in ein Flügelwesen abstreiften und langsam und unbeirrbar höher stiegen, bis sie endlich die Oberwelt erreichten, das Licht. Aber hier, nach der Entfaltung ihrer Flügel und all den Jahren in der Finsternis, blieben ihnen nur noch wenige Lebenstage, in denen sie Paarungs- und Reviergesänge anstimmten, sich in Fortpflanzungsrituale verstrickten, Eier ablegten. Dann fielen sie wie Laub von den Bäumen – die singenden Männchen zuerst, die zeitlebens stummen Weibchen Tage später. Und aus den Eiern krochen Larven wieder hinab in die Finsternis, in die Erde, um dort sieben, dreizehn oder siebzehn Jahre auf den Tag ihrer Rückkehr ans Licht zu warten.
Ich hatte auf meinem Weg von den Sankei-Gärten zum Hotel Abertausende aus den Bäumen gefallene Zikaden gesehen. Wie ausgesät lagen sie auf unfruchtbaren Böden, Autodächern, Fahrbahnen, Gehwegen, Plätzen. Anfangs hatte ich noch versucht, den Gefallenen auszuweichen, war irgendwann aber weitergegangen, ohne noch auf das Knacken von Chitinpanzern, das Knistern von Sprungbeinen und Flügeln unter meinen Schuhen zu achten.
Ich erreichte mein Spiegelbild, öffnete die Glastür und betrat die Hotelhalle. Mit der schwülen Luft strömte auch der Zikadengesang in die klimatisierte, dämmrige Kühle und ergoß sich über die Klaviermusik aus dem unter Glashauspalmen stehenden Flügel. Als sich die Tür hinter mir wieder schloß, wurden die Zikadenchöre seit Stunden zum erstenmal leiser, wie von der menschlichen Musik abgewiesen und zurückgedrängt in die Wildnis. Dabei war der offene Konzertflügel auf den ersten Blick ohne Pianisten. Ich glaubte schon, eine bloße Verkleidung für Lautsprecher vor mir zu haben, die Konzertaufnahmen wiedergaben, als ich den kleinen, sehr kleinen Mann im schwarzen Anzug sah. Er spielte so tief über die Klaviatur gebeugt, als wollte er nicht nur dem Anschlag der Filzhämmer auf den Saiten nachhören, sondern auch noch jenem Geräusch, mit dem seine Fingerkuppen auf die Tasten schlugen.
Die kurzen Beine dieses Pianisten wären wie die eines Kindes über dem Boden und den Pedalen gebaumelt, hätte er nicht zwei mattschwarz lackierte, mit schwarzen Bändern an seine Füße gebundene, stelzenartige Rundhölzer getragen, die an ihrem Ende mit den Messingpedalen verbunden waren und ihm so die Modulation seines Spiels erlaubten. Der Eindruck einer durch diese Stelzen entstehenden insektenhaften Langbeinigkeit stand in einem seltsamen Kontrast zu seinem gedrungenen Oberkörper und der geringen Spannweite seiner Arme. Dabei klang das Spiel des kleinen Mannes so offen und leicht, als wären ihm von der Zugluft Klangfarben und Rhythmen des Zikadenchors zugetragen worden. Tatsächlich schien dieses Spiel das unablässige
mii mii mii
der Zikaden aufzunehmen und zu variieren.
Ich wollte mich eben in einen der Fauteuils unter den Palmen sinken lassen, um ihm zuzuhören, als der Pianist sein Stück abrupt beendete, die schwarzen Stelzen abstreifte und
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