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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Wut darüber geraten, daß eine Seilbahnstation auf einem gegenüberliegenden Bergkamm von einer Scheinwerferbatterie in gleißendes Licht getaucht wurde. Das Streulicht dieser Scheinwerfer ließ lichtschwache Himmelsobjekte und Hunderte Lichtjahrmillionen entfernte Riesensonnen, die ansonsten wie Brillanten im Samtschwarz des Raumes glitzerten, stumpf werden und verblassen.
    Als ich mich entschloß, die lichtverseuchten Areale zu verlassen und in Sternregionen hoch im Südwesten auszuweichen, mußte ich allerdings auch dort feststellen, daß selbst M 64 , eine der zwölf hellsten Galaxien am Firmament, im Streulicht der Bergstation viel, fast alles, von ihrem Glanz verlor. In einer makellos schwarzen Nacht war mit den leistungsstärksten Teleskopen der Astronomie im Areal der Berenike eine der ungeheuerlichsten Zusammenballungen von Sternsystemen des sichtbaren Universums zu entdecken – mehr als eintausend bis zu vierhundertfünfzig Millionen Lichtjahre entfernte Galaxien –, aber der Scheinwerfer einer einzigen, menschenleeren Bergstation brachte sie mit seiner Blendkraft allesamt zum Verschwinden. Ich wünschte fluchend, dieses Licht würde unter einem Bergsturz, einer Steinlawine oder unter einem Kometeneinschlag erlöschen.
    Aber als die Lichtquelle plötzlich tatsächlich versiegte, erschrak ich beinahe. Wer will schließlich, daß seine Verwünschungen und Flüche augenblicklich in Erfüllung gehen? Die plötzliche Finsternis war in manchen Nächten ein unverhofftes Geschenk nach Stromausfällen und Blitzschlägen gewesen. Aber diese Nacht war windstill, mild, sternenklar – und nun von einer makellosen Dunkelheit.
    So langsam sich meine Augen an die geänderten Lichtverhältnisse auch gewöhnten – schon in den ersten Minuten nach dem Ende der Lichtvergiftung war zu sehen, wie die Zahl der Sterne wuchs. Und als ich den verbesserten Verhältnissen entsprechend vom Spiegelteleskop zum apochromatischen Linsenteleskop wechselte, bot sich auch im Areal der Berenike ein dramatisch verändertes Bild:
    Das Augenlid der Galaxis M 64 schien sich geöffnet zu haben, ihr Kernbereich schimmerte nun nicht mehr bloß, sondern
erstrahlte
. Nach Messungen der Rotverschiebung im Spektrum dieses Lichts hatten Astronomen die Frage diskutiert, ob die Schlafende Schönheit nicht durch eine kosmische Kollision von mindestens zwei Galaxien entstanden war, denn ihre inneren und äußeren Bereiche rotierten mit hoher Geschwindigkeit in entgegengesetzten Drehrichtungen. Dort, wo die beiden gegenläufigen Rotationen in chaotischen Wirbeln aneinanderstießen, hieß es, konnten neue, ultraheiße Sonnen zu Hunderttausenden entstehen und dazu – als kosmischer Abfall solcher Sterngeburten – Asteroidenschwärme, Planetensysteme, kühlere Orte, an denen sich Phantasien über ein Leben in fernsten Räumen entzünden durften.
    Aber jetzt, kaum aufgeschlagen, verschwand dieses Auge wieder. Ich sah die Black Eye Galaxy, die sich eben noch in ihrer vollen Schönheit gezeigt hatte, in meinem Okular erlöschen. Die gesamte Galaxis verschwand in einer jähen, wogenden Finsternis. Nur am Rand meines Blickfeldes blinkten noch einzelne lichtschwache Funken und ließen den Eindruck entstehen, daß diese Schwärze, eine flatternde, alles Licht verschlingende Nacht, auf mich zuraste.
    Doch als ich meinen Blick vom Okular löste und mit bloßem Auge zum Himmel aufsah, standen Jungfrau, Bärenhüter, Löwe und Jagdhunde – dem Haar der Berenike benachbarte Sternbilder – ruhig an einem friedlichen Himmel; in den Bergfichten regte sich kein Hauch, und selbst die schlafenden Kühe seufzten nicht mehr. Die kosmische Katastrophe tobte allein im Okular meines Refraktors und verschlang Lichtjahr um Lichtjahr des sternenbesetzten Raums … Und plötzlich hörte ich auch, wie der Weltenuntergang
klang
:
    Es war der Schrei eines Vogels. Ein Waldkauz. Er hatte in seinem lautlosen Pirschflug wohl genau entlang der Ausrichtung meiner Teleskope seine Beute gesucht oder verfolgt und war dabei von den Linsen in ein konturloses, sternfressendes Monster verwandelt worden, von dem aber mit freiem Augen ebensowenig zu sehen war wie von einer fernen Galaxis.
    War das Erleichterung, was ich empfand? Mich fror. Über den südöstlichen Höhenzügen des Höllengebirges begann der Mond hochzusteigen, der
gute Mond
, der größte Sternenfresser, der meinen intergalaktischen Streifzug beschließen würde. Nach einem raschen Aufstieg stand seine Sichel über den

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