Atlas eines ängstlichen Mannes
selbst das Land zum Meer werden lassen konnte und das Meer zum Spiegel seines Triumphes, als er in den Tagen des Sturms die Hafensperre der Stadt in einem gewaltigen Karnevalszug um
segelte
, indem er einen großen Teil seiner Flotte, zweiundsiebzig Schiffe, voll getakelt und mit allen Ruderern besetzt, von Ochsengespannen und Zehntausenden Knechten und Sklaven von den Gestaden des Bosporus über Land! schleifen und ins Wasser des Goldenen Horns setzen ließ.
Über allem Lärm dieser Verwandlungen war es hier unten still geblieben, still selbst dann, als Mehmet, der
Eroberer
, die uneinsichtigen Verteidiger der gefallenen Stadt zur Strafe in langen Reihen, triefenden, roten Alleen, pfählen ließ und in der Oberwelt stundenlang, tagelang nur die entsetzlichen Schreie der Besiegten zu hören gewesen waren.
Auch wenn ich in dieser uralten Stille kein Wort vom Geflüster des Wanderers, eines rundlichen, bärtigen Mannes mittleren Alters, verstand, gab es doch keinen Zweifel, daß sein Ziel, wie das der wenigen anderen Besucher auch, zwei mächtige, steinerne Medusenhäupter waren. Sie lagen am Rand des Säulenwaldes im Wasser. Dort warfen ihnen die Besucher Münzen als Opfergaben oder als Anzahlung für ein noch in der Zukunft verborgenes Glück zu, und die bleichen Fische schnappten in einem unbeirrbaren Reflex nach dem schaukelnd und blinkend versinkenden Kleingeld.
Wie so viele der Säulen und Kapitelle der Zisterne stammten auch diese Medusenhäupter aus dem Schutt zerstörter oder abgetragener Tempel und Paläste, die auf längst vergessene Befehle byzantinischer Kaiser zu Steinbrüchen für neue, imperiale Bauwerke der Christenheit geworden waren. Und allmählich glaubte ich zu begreifen, daß der flüsternde Wanderer, wenn er zu einem dieser Kapitelle hochsah, möglicherweise in einem Selbstgespräch die Herkunft des steinernen Blattwerks erwog und nicht zu den Fischen, sondern vielleicht bloß mit seinem eigenen Spiegelbild sprach, dem er die Tragkraft der Ziegelgewölbebögen vorrechnete. Er ging, er flüsterte, hielt inne, ging in sein Selbstgespräch versunken weiter, und ich folgte ihm, schließlich hatten wir ein gemeinsames Ziel.
Medusa, eine sterbliche Schönheit der antiken Sagenwelt, war von Pallas Athene beim Liebesspiel mit Poseidon, dem Beherrscher der Meere, in ihrem Tempel ertappt und von der empörten Göttin für diesen Frevel zur Häßlichkeit, ja Schrecklichkeit verdammt worden: Die ehemals Wunderschöne sollte bis ans Ende ihrer Tage Schlangen statt Haare auf dem Kopf tragen und als geflügeltes Ungeheuer mit flackernden Augen, Reißzähnen und hängender Zunge jeden Menschen, der sie erblickte, vor Entsetzen zu Stein werden lassen.
Die Baumeister der Zisterne hatten die Medusenhäupter als Säulensockel verwendet und dabei einen der Köpfe verkehrt, den anderen liegend auf den Grund des Wasserspeichers gesetzt, als ob sie die Medusen zur immerwährenden Betrachtung der Säulenreihen und des Gewölbes zwingen und durch die versteinernde Wirkung dieses Blicks die Dauerhaftigkeit von Marmor und Granit noch erhöhen wollten.
Vor dem liegenden der beiden schlangenhaarigen Köpfe hielt der Wanderer nun endlich inne und hörte auf zu flüstern. Dann zog er – wie neben ihm zwei andere Zisternenbesucher auch, eine Münze aus seiner Börse, hielt sie kurz ins Licht, das hier so hell war wie an keinem anderen Ort des Versunkenen Palastes, und warf sie gegen die toten Augen, gegen die Stirn der Medusa, von wo sie mit einem Geräusch, kaum lauter als ein Tropfen, ins seichte Wasser fiel. Aber er ließ die zum Grund schaukelnde Münze nicht aus den Augen und starrte, als sie endlich still lag, ins Wasser, als sähe er etwas, was niemand sonst sah.
Und dann überstieg er plötzlich die Absperrung, eine schwere Kette, die Menschen und Medusa voneinander trennen sollte, und sprang vom Holzsteg, bevor jemand auch nur die Hand nach ihm ausstrecken konnte. Bis zu den Knien im Wasser stehend, bückte er sich nach seiner Münze, drehte sie um, ohne sie aus dem Wasser zu nehmen, und legte sie wieder zurück auf den Grund.
Kopf oder Zahl: Würde Istanbul seinen Namen in einer fernen Zukunft noch einmal ablegen und wechseln, eintauschen gegen einen Allah gefälligeren? Sollte eine Reise nach Anatolien getan oder unterlassen werden?, eine Freundschaft in Istanbul gelöst oder bewahrt? War in der kommenden Nacht einer Begierde nachzugeben – oder ihr zu widerstehen?
Zahl oder Kopf: Welche Seite die Münze
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