Atlas eines ängstlichen Mannes
den Augen Rußlands verschwunden.
Mein Begleiter hatte mir auf unserem Weg durch windige, leere Gassen von einer Wallfahrt erzählt, die er als Kind mit seinen Eltern und zwei Brüdern von seiner Heimatstadt Nishnij Nowgorod zum Lenin-Mausoleum nach Moskau unternommen hatte: die tagelange Anreise auf der eisigen Ladefläche eines Lastwagens; die Ankunft um Mitternacht am Roten Platz; sechzehn Stunden Wartezeit in einer Menschenschlange, die bis tief in den Alexandergarten zurückreichte …; eine ganze Nacht im Freien! Und dann das unendlich langsame, schrittweise Vorrücken in einer dichtgedrängten Prozession gegen das Tor des Mausoleums, um irgendwann, frierend und erschöpft, einen flüchtigen Blick auf Lenins zur Schau gestellten Leichnam werfen zu können, bevor man von den Nachdrängenden und den Kommandos der Wachsoldaten weitergeschoben wurde, zurück und hinauf in die Oberwelt.
War es nicht seltsam, sagte mein Begleiter, daß die mächtigsten Männer der untergegangenen Sowjetunion Jahr für Jahr am
Tag der Oktoberrevolution
und dem
Tag der Arbeit
auf dem Dach des Lenin-Mausoleums Aufstellung genommen hatten, um von dort herab den Fahnen, den Paraden, dem Volk zuzuwinken? Ein Grab als Tribüne der Macht, ein Grab als der wahre Thron!
Die Brautpaare hatten mittlerweile in einiger Entfernung ihre Kulissen gefunden, die zum Hintergrund der Erinnerung an einen kalten Hochzeitstag werden sollten, und lachten in die Kamera. Der rote Granit des Mausoleums, dem ich mich mit meinem Begleiter durch den unberührten Schnee näherte, hätte gewiß einen reizvollen Kontrast zum Weiß der Brautkleider abgegeben. Aber das Grabmal schien gegen die imperiale Pracht des Kreml oder die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale alle Bedeutung verloren zu haben.
Obwohl die Torflügel des Mausoleums offenstanden wie die eines eroberten, geplünderten Palastes, waren keine Besucher zu sehen. Zwei Wachsoldaten, das war alles. War das Gerücht also wahr, das Grab leer und Lenin an Stalins Seite im Schatten der Kremlmauer begraben? Hatten die siegreichen Reformer gezeigt, daß nicht nur eine neue Zeit, sondern auch eine neue Ewigkeit angebrochen war? Das Tor stand weit offen. Also gingen wir darauf zu.
Die beiden Wachen starrten unbewegt in das leichte Schneetreiben, das eingesetzt hatte, und ließen uns wortlos passieren. Erst als wir in die Unterwelt hinabstiegen und mein Begleiter von den durchfrorenen Füßen und blauen Händen sprach, unter denen er bei seinem letzten Besuch hier gelitten hatte, wurde uns ein Befehl von oben zugebellt: Leise! Wir hätten leise zu sein. Und langsam! Wir sollten langsam gehen.
Wir gehorchten und schritten so langsam die Stufen hinab, als bewegten wir uns in einer müden, dichtgedrängten Prozession, die schon seit vielen Stunden, Schritt für Schritt, einer Mumie entgegenkroch – vor uns Unsichtbare, hinter uns Unsichtbare, neben uns Unsichtbare –, und standen am Ende vor Lenins Panzerglassarg.
Immer noch, er liegt immer noch da! flüsterte mein Begleiter, als könnte er nicht glauben und ich nicht sehen, was er sah: Eine Mumie in Anzug und Krawatte, die ganze Generationen von Präparatoren, Biochemikern und Anatomen beschäftigt hatte, die alle paar Jahre neu eingekleidet und wieder und wieder mit den radikalsten Mitteln des Kampfes gegen die Verwesung getränkt worden war, lag in mildem, weißem Licht in einem Prunkbett unter Panzerglas. Die wächsernen Gesichtszüge erschienen so starr, als wären sie weder im Leben noch im Tod, niemals, von einer Regung der Heiterkeit, des Hasses, der Liebe, Angst oder der Trauer bewegt worden.
Wie hatte Lenins Gesicht wohl in seiner Jugend, an jenem Tag ausgesehen, an dem sein Bruder Alexander, ein siebzehnjähriger Schüler, gehängt wurde, weil er sich an einem Attentat auf den Zaren Alexander III . beteiligen wollte – und wie, als Lenin viele Jahre später, nun selber von schlecht verheilten Schußwunden nach einem Attentat gequält, Liquidationslisten redigierte oder Massenhinrichtungen durch die bolschewistischen Geheimdienste befahl?
Liquidieren. An die Wand stellen. Auslöschen. Vernichten
: Mit welchem Ausdruck hatte Lenin diese von ihm oft gebrauchten Vokabeln aufs Papier gesetzt? Hatten sich Empörung oder Wut in seinen Zügen gespiegelt, als er in Nishnij Nowgorod Hunderte Prostituierte erschießen ließ, weil die Kampfkraft der Roten Armee nicht von Huren geschwächt werden durfte? Und war es Wut oder bloß die teilnahmslose
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