Atlas eines ängstlichen Mannes
wie die Hochseeangler. Der Steuermann drosselte das Tempo.
Als hätte der Tod oder das Geheimnis des Verschwindens so vieler Seeleute einen Schreckensraum um ihn herum entstehen lassen, lag der Kutter verlassen und weitab vom nächsten Schiff im öligen Wasser. Die geborstene Reling, der Schaden am Schanzkleid, das fehlende Dach am Ruderhaus – alles war, wie längst auf Bildschirmen und Titelblättern gezeigt.
Als unser Boot das Geisterschiff passierte, stoppte der Steuermann die Maschine, und wir glitten lautlos an dem zerschlagenen Schanzkleid vorüber. Plötzlich zog die Frau mit dem Mal der Hindus auf der Stirn ein Fläschchen aus ihrem Sari, öffnete den Schraubverschluß und goß mit einer weit ausholenden Armbewegung einen dünnen, glitzernden Strahl in Richtung des Schiffsrumpfes. Das geschah so selbstverständlich und beiläufig, daß ich die Geste kaum beachtete und sie für etwas hielt, das nicht viel mehr sein konnte als das Ausgießen einer schal gewordenen oder verdorbenen Flüssigkeit; ein Gefäß, das wiederverwendet werden sollte, wurde hier geleert, nichts weiter.
Es war der Steuermann, ein Kreole aus Grand Baie, der mich vor dem Sturm schon einmal nach Port Louis und wieder zurück nach Péreybère gebracht hatte, der mir später sagte, es war an einem vom Fischgeruch aus der großen Markthalle überwehten Anlegesteg, daß die Frau Wasser aus dem Ganges ins Meer gegossen hatte:
Bei den Hindus – und auf Mauritius waren die meisten Gläubigen Hindus – sei es Brauch, einem Verstorbenen einige Tropfen Wasser aus dem heiligsten aller Ströme in den Mund zu träufeln, Wasser, das den Staub der Seelenwanderung abwaschen und den Toten stärken sollte auf seinem Weg in die Befreiung von allen Gestalten und Formen.
Das Wasser des Ganges, das sich nun an der Bordwand und unter dem Kiel von King Fish untrennbar mit dem Wasser des Hafenbeckens und so mit dem Indischen Ozean vermischte, sollte von Gezeiten und Strömungen bis an die Lippen jener Verschwundenen getragen werden, die nun bei Saint Brandon oder irgendwo weit draußen in der blauen Tiefe schwebten. Und während die Körper der ertrunkenen Seeleute den Hunger von Fischen und Krebsen stillten, würde dieses Wasser die vergehenden Gestalten durchströmen und so noch am Meeresgrund daran erinnern, daß die Trauer über die Toten und alles Verlorene nur ein Schatten der Rettung war.
Der Untote
Ich sah sieben Brautpaare an einer Straßensperre vor dem Roten Platz in Moskau. Jenseits der von Soldaten bewachten Scherengitter lag der Platz menschenleer wie ein weiter, zugefrorener See. Am Morgen hatte es geschneit, und die dünne Schneedecke war in den grauen Vormittagsstunden nicht wieder geschmolzen. Warum der Platz nicht betreten werden durfte, blieb ein Geheimnis. Einer der Wachsoldaten zuckte zu den Fragen meines Begleiters, eines Übersetzers aus Nishnij Nowgorod, nur die Achseln. Von einem mit Kameras behängten Fotografen, der mit den Brautleuten an der Absperrung wartete, war zu erfahren, daß wir Geduld haben sollten, warten sollten. Es werde nun nicht mehr lange dauern. Das habe ihm ein Kollege, der am anderen Ende des Platzes, an der Basilius-Kathedrale, festsitze, am Mobiltelefon versichert.
Nicht mehr lange? sagte mein Begleiter, nicht mehr lange?, das konnte in Rußland die Ewigkeit sein.
Wir waren eben dabei, dem Roten Platz und dem Lenin-Mausoleum, das wir dort besuchen wollten, den Rücken zu kehren, als die Scherengitter plötzlich zur Seite geschoben wurden und die Soldaten die Brautleute und ihren Fotografen in die schneeige Weite entließen. In Moskau wurden in diesen Spätherbsttagen fast zweihundert Tote und mehr als vierhundert Verletzte beklagt – Opfer der Straßenkämpfe zwischen den Anhängern eines russischen Vizepräsidenten namens Alexander Ruzkoi und denen des abgesetzten Präsidenten Boris Jelzin, der das Parlament mit Panzergranaten hatte beschießen lassen, um gegen die darin verbarrikadierten Volksdeputierten seine Reformpolitik durchzusetzen. Nach Jelzins Sieg und dem Ende der Kämpfe herrschte in weiten Teilen der Stadt eine erschöpfte, von Zorn und Trauer bestimmte Ruhe.
Ich war mit meinem Begleiter einem Gerücht gefolgt, das am Vorabend die Runde gemacht hatte: Der einbalsamierte Leichnam Wladimir Iljitsch Lenins sei nach einem sieben Jahrzehnte dauernden Totenkult von Reformern aus dem Mausoleum am Roten Platz entführt und in aller Stille an der Kremlmauer begraben worden und damit endlich aus
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