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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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vor ihm nicht mehr zu schlafen wagten. Also erschlugen sie ihn mit jener Axt, mit der er sie bedroht hatte. Kurz nach dem Kampf erstickte einer der Sieger an einem Asthmaanfall.
    Der einzige Überlebende der Flucht auf eine Insel, die trotz ihrer vielen Positionen auf der Weltkarte allen Verfolgern wie von den Wellen verschluckt schien, sollte schließlich auch der einzige von allen Entkommenen sein, der nach seinem Tod nicht bloß verscharrt, ins Meer geworfen oder einfach den Vögeln überlassen, sondern unter einem behauenen Stein begraben und von Frauen und Kindern betrauert wurde.
    Auch dieser letzte der Meuterer durfte aber nur deswegen eines gewaltlosen, vielleicht sogar friedlichen Todes sterben, weil die Kapitäne der englischen Kriegsschiffe
Tagus
und
Briton
, die Pitcairn, ohne je nach den Flüchtigen gesucht zu haben, fünfundzwanzig Jahre nach der Meuterei zufällig wiederentdeckten, Gnade vor Recht ergehen ließen: Obwohl sich ihnen ein alter, Psalmen flüsternder Mann als Alexander Smith alias John Adams, Meuterer von der Bounty, Mörder, Frauenräuber und reuiger Sünder, zu erkennen gab und sich jedem Gericht freiwillig stellen und jede Strafe, auch den Galgen, erdulden wollte, segelten die Kapitäne auf Bitten einer Schar weinender Frauen und Kinder ohne John Adams, den Namenspatron der kleinsten Stadt der Welt und einzigen menschlichen Siedlung in einem scheinbar unendlichen Ozean, nach England zurück. Dort berichteten sie der Admiralität, sie hätten es angesichts einer Inselgemeinschaft, die an so vieles, an Verbrechen, an Schuld und Sühne, aber auch an das Paradies erinnern konnte, nicht übers Herz gebracht, dem Gesetz Genüge zu tun.
    Als ich mich aus meinem Schilfgrasversteck erhob, um weiterzugehen, hinab ins Dorf und zu John Adams’ Grab, das unter einer Königspalme weitab von jenem kleinen Friedhof lag, auf dem man Deborah Christian am späten Nachmittag zwischen so vielen anderen Christians bestatten würde, blieb es still: kein Hufgetrappel, kein klingelnder Eisenring. Die Ziege mußte sich losgerissen und, vermutlich den Strick hinter sich herschleifend, ins Dickicht geschlagen haben.
    Hangaufwärts, schon sehr fern, sah ich winkende Zweige. Wenn diese Bewegung den Fluchtweg der Ziege anzeigte, konnte es nicht lange dauern, bis sich ihr Zerrstrick in irgendeinem Geäst, an irgendeiner Wurzel verfing und sie neuerlich fesselte. Aber dort oben würde niemand vorüberkommen und sie zu Tode erschrecken, wie ich es getan hatte. Vielleicht aber auch niemand, um sie loszubinden, heimzuholen, zu retten. Ich mußte einen Zettel hinterlassen, eine Nachricht an der offenen Verandatür und löste eine Seite aus meinem Notizbuch, während ich zwischen Schilfgrasbüscheln auf das verlassene Haus zuging.

Ein Schatten der Rettung
    Ich sah eine rote Schwimmweste am Rand eines wogenden Treibgutfeldes im Indischen Ozean. Wie zu einem Segelflug ausgebreitet, schaukelte sie zwischen Plastikfässern, Seetang, zerrissenen Planen, Palmwedeln, Bruchholz und anderen Resten zerstörter Hütten und geborstener Stege in einer weitläufigen Bucht der eintausendachthundert Kilometer vor der ostafrikanischen Küste gelegenen Insel Mauritius.
    Der Steuermann des Bootstaxis, der mich an diesem schwach windigen, nahezu wolkenlosen Februartag gemeinsam mit anderen Passagieren – drei Frauen, von denen eine die Tilaka, das Segenszeichen der Hindus, auf der Stirn trug, und zwei Hochseeanglern aus dem Elsaß – von Péreybère nach der Inselhauptstadt Port Louis bringen sollte, fischte die Weste mit einem Bootshaken aus der Trümmerflut, die der Zyklon
Gamede
eine Woche zuvor hinterlassen hatte. Gamede, einer jener verheerenden Tropenstürme, von denen Mauritius in den feuchtheißen Sommermonaten zwischen Dezember und April immer wieder heimgesucht wurde, war mit Windgeschwindigkeiten von mehr als einhundertachtzig Stundenkilometern über die Insel hinweggerast und hatte vor der Küste, die wir an diesem Vormittag entlangfuhren, Wellen hochschlagen lassen, deren Kammhöhen vom Wetterdienst mit zwanzig Metern gemessen worden waren.
    Die Rettungsweste, die einer der elsässischen Hochseeangler als erster gesichtet hatte, wäre nur eines von unzähligen aus jeder Ordnung und allem Zusammenhang gerissenen Treibgutstücken gewesen, die auf der Fahrt nach Port Louis unbeachtet an uns vorüberglitten, wenn in ihrem Rot nicht groß jener Schiffsname geprangt hätte, der in den Tagen nach dem Sturm stets in einem Atemzug

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