Atlas eines ängstlichen Mannes
Unerbittlichkeit eines Strategen, wenn er nach allen verlustreichen Kämpfen um die Diktatur des Proletariats Hunderte Arbeiter, streikende Arbeiter! in Petrograd erschießen ließ und damit vorführte, daß jede Revolution, auch die große vom Roten Oktober, irgendwann begann, ihre Kinder zu fressen?
Verliebt, heiter oder feierlich ernst – mit welcher Miene hatte Lenin um die Hand seiner Frau Nadeshda Krupskaja angehalten? Konnte einer, der seinen Namen
Uljanow
, den Namen eines vermögenden Adeligen, ablegte, um
Lenin
zu seinem Kampfnamen zu wählen, dies nicht auch mit einem Lächeln getan haben? Mein Begleiter hatte mir von Stimmen erzählt, nach denen Lenin schon als Junge auf die Frage, wessen Liebling er denn sei, stets den Namen seines Kindermädchens gerufen habe:
Lenas!
, das konnte im Russischen ungefähr
Lenin!
bedeuten. Oder hatte der erste Mann der Revolution an den ostsibirischen Fluß Lena und damit an das Massaker erinnern wollen, das zaristische Truppen dort an streikenden Goldminenarbeitern verübt hatten – Lenin, das konnte dann auch heißen:
Der vom Fluß.
Wir hätten die Mumie lange befragen können. Aber wir durften nicht bleiben. Vielleicht mußten die Wachen bloß verhindern, daß das maskenhafte Antlitz des Unsterblichen allzu lange betrachtet und dabei bemerkt wurde, daß auch ein Revolutionär, und hätte er die Welt von der Gravitation befreit und aus ihrer Bahn um die Sonne geworfen, vor dem Lauf der Zeit nicht zu bewahren war.
Weitergehen! Eine Soldatenstimme aus der Oberwelt rief den Befehl in die Tiefe. Dabei waren wir die einzigen am Prunkbett der Mumie. Es gab niemanden, der an unsere Stelle treten wollte.
Weiter, gehen Sie weiter! Schweigen Sie!
Also reihten wir uns ein in eine Prozession von Geistern und stiegen, gedrängt und begleitet von Unsichtbaren, die Stufen langsam wieder empor, hinauf ins Schneelicht des Roten Platzes, der sich nach der Öffnung der Sperren und trotz des Schneetreibens zu beleben begann. Vom Tor des Mausoleums führte nach wie vor keine andere als unsere eigene Spur hinaus auf den beschneiten Platz. In dieser Spur schritten wir, steif vor Kälte und wortlos, als gehorchten wir immer noch dem Schweigebefehl eines Totenwächters, in die Welt der Lebenden zurück.
Parlamentsbesucher
Ich sah einen barfüßigen Mann in einer langen Schlange winterlich vermummter Menschen vor dem Reichstag in Berlin. Der Mann trug einen grauen Kammgarnmantel, graue Lederhandschuhe, auch Schal, Hut und Flanellhose waren grau, wenn auch von dunklerer Tönung. Selbst seine nackten Füße schienen in der Kälte etwas vom regenfeuchten Grau der Pflastersteine angenommen zu haben. Bis auf den Umstand, daß er weder Schuhe noch Strümpfe trug, war der Mann auffallend eleganter gekleidet als die meisten anderen, in Anoraks, Daunenjacken oder Regenmäntel gehüllten Wartenden.
Ich kam an diesem windigen Tag an der Schlange vorüber, weil mir der Weg durch die leere Weite vor dem Reichstag als der kürzeste zu einer Verabredung am Brandenburger Tor erschienen war, und versuchte nun beiläufig abzuschätzen, wie viele Menschen hier unter freiem Himmel über Pflaster, Treppenstufen und durch viel leere Weite Schritt für Schritt gegen die Sicherheitsschleusen am Eingang des Reichstags vorrückten:
Es mußten mehr als zweihundert sein, die Wind und Kälte zur Not stundenlang ertragen und schließlich Handgepäckkontrollen und Leibesvisitationen über sich ergehen lassen wollten, um am Ende das Parlament eines der reichsten und mächtigsten Länder Europas besichtigen zu dürfen. Unter einer riesigen Kuppel aus Stahl und Glas, die nicht nur den Regierungspalast, sondern die ganze Stadt zu überwölben und den grauen Himmel über Spiegelflächen ins Innere des Gebäudes zu zwingen schien, berieten Volksvertreter in diesen Tagen neben ungelösten Fragen zur empörend ungerechten Verteilung des Reichtums auch darüber, ob Deutschland seine Soldaten in einen Krieg befehlen sollte, der fernab der Landesgrenzen auf Schlachtfeldern des Mittleren Ostens tobte, wo es wenig zu gewinnen und viel zu verlieren gab.
Der Barfüßige, längst über das Alter eines Soldaten hinaus und vielleicht sogar alt genug, um schon im vorläufig letzten Weltkrieg Helm und Uniform getragen zu haben, stand im hinteren Drittel der Warteschlange. Von dort würde er eineinhalb, vielleicht zwei Stunden benötigen, bis er das mildere Klima des Parlaments erreichte.
Die dicht vor ihm und dicht hinter ihm
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