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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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sollte man ihm den Eintritt verbieten?
    Tatsächlich schienen weder die Wartenden vor noch die hinter dem Barfüßigen daran gezweifelt zu haben, daß man das deutsche Parlament auch ohne Schuhe und Strümpfe betreten konnte. Was hatte ein gut gerüstetes, von Polizei, Armee und Geheimdienst beschütztes Land, das noch dazu Waffen in solchen Massen produzierte, daß es mittlerweile die dritte Stelle unter den größten Waffenexporteuren der Welt einnahm, von einem barfüßigen alten Mann zu fürchten? Viel harmloser, wehrloser als ein Barfüßiger konnte ein Mensch doch nicht sein. Und mußte man vor den Sicherheitsschleusen die Schuhe nicht ohnedies ausziehen, wenn zirpende Metalldetektoren anders nicht zu beruhigen waren?
    Den Barfüßigen kümmerte auch diese Frage nicht. Die Kuppel schimmerte wie ein Eispalast. Mehr als eintausend Tonnen, war auf einem gelben Flugblatt zu lesen, das einige der Wartenden immer noch in den Händen hielten, während es andere längst dem Wind überlassen hatten: Mehr als eintausend Tonnen wog die scheinbare Leichtigkeit dieser Konstruktion. Ein Flugzeug, das in der Ferne zum Himmel stieg, schien plötzlich im Inneren der Kuppel dahinzudröhnen.
    Warum der da den Reichstag nur von außen sehen würde? Barfuß! sagte der Dicke jetzt fast triumphierend und wie einer, der soeben den Schlüssel entdeckt hatte, der einem Menschen nicht nur das Parlament eines Landes, sondern die Gemeinschaft der Landesbewohner öffnen – oder ihn davon ausschließen konnte:
    Barfuß! Weil er barfuß ist.

Nackter im Schatten
    Ich sah einen nackten Mann im Fernglas aus meiner Deckung hinter staubigen Feuerdornsträuchern. Er kauerte reglos im Schatten einer Betonsäule, die ein Kreuz aus vier nach den Himmelsrichtungen montierten Lautsprechern trug. Die Säule stand am Südhang eines baum- und strauchlosen Hügels, der sich hinter langgezogenen, von stacheldrahtbewehrten Mauern umgebenen Gebäuden mit vergitterten Fenstern erhob – die Irrenanstalt auf der griechischen Insel Leros.
    In Athen herrschten in diesen Tagen die Militärs, und es hieß, die Junta würde ihre Gegner nicht nur in Folterkeller und Gefängnisse auf dem Festland oder in die großen Internierungslager auf den Inseln Gyaros und Leros verschleppen, sondern auch in Irrenanstalten wie jene, die nun in der prallen Sonne vor mir lag.
    Der nackte Mann schrie. Es war eine Folge rasender Laute und Silben, die er nur unterbrach, um Atem zu holen. Obwohl es früher Vormittag war, brannte die Sonne schmerzhaft. Es war windstill. In den Dörfern der Insel hoffte man seit Wochen vergeblich auf den kühlenden Meltemi, Wind aus Nordwest. Es war August.
    Der Sonnenlauf hatte den Schatten der Lautsprechersäule verkürzt und den Rücken und kahlrasierten Hinterkopf des Nackten den Strahlen ausgesetzt – und der ins unbarmherzige Licht Geratene rückte schreiend und ohne seine Kauerstellung aufzugeben, dem schrumpfenden Schatten nach. Endlich wieder in seinem Schutz, schien er in seine Versunkenheit zurückzufallen. Sein Schreien ging in ein Wimmern über, erstarb.
    Die ebenfalls nackten oder bloß mit weißen, fleckigen Hemden bekleideten Insassen, die in seiner Nähe standen, an ihm vorübergingen oder im Schatten der Gebäude auf dem steinigen Erdboden lagen, nahmen weder von seinem Schreien noch von seinem Verstummen Notiz. Ich sah mehr als hundert nackte und halbnackte Menschen in der prallen Sonne, mehr, viel mehr im Schatten. Nicht zu sehen war, wer von ihnen ein verzweifelter Häftling und bei Sinnen – und wer verzweifelt und geisteskrank war.
    Aus dem Lautsprecherkreuz auf der Säule war manchmal ein Knacken zu hören, aber keine Anweisung, kein Befehl. Auch die Insassen schienen stumm. Ich konnte aus der Entfernung meines Verstecks auf einem Abhang etwa fünfzig Meter vor den Stacheldrahtspiralen der Anstaltsmauer einen Gefangenen nur hören, wenn er schrie, und wagte nicht, mich aus meiner Deckung zu erheben und durch das Feuerdorngestrüpp näher an die Mauer heranzukriechen, seit ein weiß gekleideter Mann, ein Pfleger, ein Wärter, aus jenem Gebäude getreten war, auf das der Schatten der Säule zuwanderte. Der Wärter nahm auf einer Bank Platz, zog eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche und begann zu rauchen. Mir rann der Schweiß über die Stirn und tropfte auf die Okulare. Ich durfte nicht sein, wo ich war. Ich hockte an einem verbotenen Ort.
    Jetzt schrie der Nackte wieder. Wieviel Zeit war seit seinem letzten Geheul

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