Atlas eines ängstlichen Mannes
Wartenden schienen sich an den grauen Mann und seine bloßen Füße bereits gewöhnt zu haben. Vielleicht hatten sie auch schon einige vergebliche Versuche hinter sich, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und standen nun wieder fröstelnd, schweigend oder mit ihren Nachbarn plaudernd in der Kälte.
Natürlich mußte die Nachricht von einem Barfüßigen längst reihauf, reihab weitergetragen worden sein. Ich sah Wartende, die bemüht unauffällig vor- oder die Reihe zurückschlenderten, um diesen Mann zu sehen, der sich schweigend, den Blick auf die Reichstagskuppel gerichtet, seinem Ziel auf nackten Füßen näherte und vom gelegentlichen Gekicher und Getuschel um ihn herum nichts zu bemerken schien.
Ich tat, als betrachtete ich bloß das monströse Gebäude, das vor der Schlange mit jedem Schritt, der in ihr getan wurde, höher in den Winterhimmel aufwuchs, blickte mich um wie einer, der, was er sieht, mit seinem Stadtplan, seinen Erwartungen oder Erinnerungen vergleicht, hantierte an der Kamerafunktion meines Mobiltelefons und schielte dabei doch und ebenso verstohlen wie dieser und jener aus der Warteschlange auf den grauen Mann mit den nackten Füßen. Ich würde zu spät zu meiner Verabredung kommen, aber sein Anblick ließ mich nicht los.
Jetzt sprach ihn ein Mädchen an, das vom Kopfende der Schlange – so weit also war die Nachricht vom Barfüßigen bereits vorgedrungen? – herangelaufen, ja über steinerne Treppenstufen herangetanzt gekommen war und sich nicht um eine Frau, die Mutter?, kümmerte, die einen Namen rief, den ich zunächst nicht verstand:
Frierst du nicht?
Der Barfüßige rückte seinem Vordermann zwei, drei Schritte nach, schwieg, blickte zur Kuppel auf.
Warum hast du keine Schuhe?
Miriam! Die Mutter wollte ihre weit vorgerückte Position nicht gefährden, war bloß einen Schritt aus der Reihe getreten und rief von dort noch einmal im Befehlston: Miriam!
Du hast keine Schuhe, sagte Miriam und wandte sich von dem Barfüßigen ab, um dem Ruf der Mutter zu folgen. Vielleicht hatte das Mädchen aber auch schneller als die anderen Wartenden begriffen, daß von diesem Mann keine Antwort zu erhoffen war.
Aus dem grauen Himmel lösten sich vereinzelt winzige Flocken, von denen manche, noch bevor sie das Pflaster oder die Mäntel und Mützen der Schlange erreichten, vom leichtesten Aufwind wieder hochgetragen und anderswo abgesetzt wurden. Weil aus einem Wald turmhoher Baukräne am fernen Rand der Weite Brandgeruch heranwehte, dachte ich an Asche; vielleicht wärmten sich Bauarbeiter zur Mittagspause an einem Feuer aus Schalungsholz und leeren Zementsäcken. Aber es war Schnee.
Ob man es nicht besser lassen und zurück ins Hotel gehen solle, fragte ein Mann mit Pelzmütze eine zierliche Frau an seiner Seite, bei diesem Tempo könne man hier ja noch stundenlang frieren. Das hier sei keine Warteschlange, sondern eine Warteschnecke.
Und dann die Anmeldeformulare nochmal ausfüllen? sagte die Frau, alles von vorne?
Ich fragte mich, was wohl auf dem Anmeldeformular des Barfüßigen zu lesen stand, das jeder Besucher des Reichstages ausfüllen mußte, bevor er sich in lange sommerliche oder kürzere winterliche Schlangen einreihte. Hoch in der Reichstagskuppel, himmelhoch oben, auf einem umlaufenden Steg oder einer Plattform, erschienen jetzt winzige, schwarze Gestalten vor den grauen Wolken. Die hatten es geschafft. Die sahen, wenn sie in die Tiefe blickten, die Schlange, aus der sie gekommen waren, als dunkles, unregelmäßiges Band in der Leere.
Ob die da drinnen Fußbodenheizung haben, was meinen Sie? fragte der Mann mit der Pelzmütze den Barfüßigen in einem Tonfall, der gutmütig klang.
Der Barfüßige schwieg, verfolgte den Weg der Winzlinge durch die Kuppel.
Und dann kam ein dicker Mann, dessen Geduld wohl irgendwo in der vorderen Hälfte der Schlange gerissen war. Der Ärger mußte ihn gewärmt haben, er trug eine Daunenjacke über dem Arm und hatte keine Frau an seiner Seite, die ihn zum Bleiben ermahnte:
Ohne mich. Die sollen sich andere Idioten suchen.
Von einem Barfüßigen schien er in der Zeit des Wartens nichts gehört zu haben. Er blieb dicht vor dem grauen Mann stehen, starrte auf die nackten Füße und sagte, die kalten Füße können Sie sich anderswo holen, so kommen Sie da nie rein.
Der Barfüßige schwieg.
Warum nicht? sagte der Mann mit der Pelzmütze. Vielleicht beneidete er den Dicken. Der ging einfach, der tat, was er auch längst hätte tun sollen. Warum
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