Atlas eines ängstlichen Mannes
zurückversetzen an einen kalten, verschneiten Samstagnachmittag in meinem Heimatdorf, an dem eine mit braunen Samtjacketts und Glockenhosen uniformierte Band diese Ballade von vergeblicher Liebe und einem Abschied am Bahnhof mit großer Mühe, aber zur Begeisterung einer zum Teil in Trachten erschienenen Hochzeitsgesellschaft nachgespielt und nachgesungen hatte.
Die Karaoke-Maschine gab die Melodie offensichtlich in einer Endlosschleife wieder, denn der Sänger war eben wieder bei der ersten Strophe angelangt, als nach einem blendendem Blitz, dem im Bruchteil einer Sekunde ein Donnerschlag folgte, die Musik abbrach und alles Licht erlosch. In der plötzlichen Nacht sah ich den Sänger als schwarzen Schatten, der noch zwei, drei Takte in die jähe Stille sang und dann, ohne seine Sonnenbrille abzunehmen, auf den unter dem erloschenen Bildschirm stehenden Turm elektronischer Geräte zuging. Obwohl dort kein einziger Funke eines Kontrollämpchens mehr glühte, drehte und drückte er an Knöpfen, als müßte er bloß die richtige Tastenkombination finden, um trotz Blitzschlag und Stromausfall weiter und weiter und immer wieder seinen Blues singen zu können.
Und dann flammte am Rande der Plattform ein Licht auf, und ich sah einen nur mit einem Sarong bekleideten dünnen Mann, den ich zuvor entweder nicht bemerkt hatte oder der über einen der Stege aus dem Dunkel gekommen war. Er rief dem Sänger etwas und noch etwas zu, während er im Schein seiner Taschenlampe zwischen den Plastiktischen auf die Bühne zuging. Der Sänger lachte. Und dann war der dünne Mann bei ihm, nahm ihn an der Hand und führte ihn behutsam die Bühnentreppe hinab und zwischen den leeren Stühlen und Tischen zu einem der Stege, und ich verstand, daß dieser Sänger, der mit seiner freien Hand nach Hindernissen tastete, den Blitz nicht hatte sehen können und nicht hatte sehen können, wie die Neonröhren und Kontrollampen erloschen waren, und nicht, wie die Nacht so plötzlich über die Mangroven hereingebrochen war und Insektenschwärme und einen Blechhimmel, an dem Hunderte Geckos klebten, verschluckt hatte. Karaoke. Ein Blinder hatte mich aus den Mangroven Sumatras in das Dorf zurückgesungen, aus dem ich kam.
Weißer Sonntag
Ich sah ein Paar zierlicher Lackschuhe, weiße Mädchenschuhe, im Nest einer mit Seidenpapier ausgeschlagenen offenen Schachtel. Ein dunkelhaariges Mädchen, das an der Hand eines gedrungenen, schweißüberströmten Mannes in ein Schuhgeschäft des oberösterreichischen Marktfleckens Schwertberg gekommen war, hatte das Paar nach der Anprobe behutsam in die Schachtel zurückgelegt und wartete nun, ohne den Blick davon zu wenden, daß die Verkäuferin das Wunder endlich verpacken und sie damit unwiderruflich zur Eigentümerin schneeweißer Lackschuhe machen würde.
Die Ladentür stand weit offen. Es war ein sonniger Frühlingsnachmittag in der ersten Woche nach Ostern. Der kommende Sonntag würde der
Weiße
sein, ein Festtag, an dem das Mädchen, ganz in Weiß, die langen Haare unter einem Schleier zu Locken gedreht und in der Hand eine mit dem Zeichen des Kreuzes verzierte Kerze, in einer feierlichen Prozession ebenfalls weiß gekleideter Mädchen und in Festtagsanzüge gezwängter Jungen zur Kirche geführt werden würde. Dort sollte der Kinderzug vor einem mit weißen Blüten wie beschneiten Hochaltar die
Heilige Kommunion
empfangen – eine hauchdünne, münzgroße Oblate aus ungesäuertem Weizenmehl und Wasser, die ein Priester auf dem geheimnisvollen Höhepunkt eines von Chorgesang und Orgelmusik begleiteten Rituals in den
Leib Christi
verwandeln würde. Und dieser Leib des Sohnes eines allmächtigen Gottes, Schöpfers des Himmels und der Erde, der Ozeane, Sonnen- und Planetensysteme, der Galaxien und Lichtjahrmilliarden durchmessenden Tiefen des Alls und der Zeit, würde sich, in der Form einer Hostie den Kindern von geweihten Händen auf die Zunge gelegt, in ihrer Mundhöhle auflösen und dadurch ein Teil von ihnen werden. Was für eine Verwandlung, was für ein Zauber am kommenden Sonntag bevorstand. Was für ein Fest.
Zwei Amseln in den Kastanien auf dem Marktplatz vor dem Schuhgeschäft sangen so bezaubernd, daß selbst die Schläge eines Preßlufthammers, der im Nebenhaus eine Wand oder einen Boden durchschlug, von ihren Stimmen wie umsponnen und gemildert wurden. Der Geruch nach Leder vermischte sich mit dem um diese Jahreszeit allgegenwärtigen Duft von Flieder, Narzissen und nackter Erde, den die
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