Atlas eines ängstlichen Mannes
Zugluft bis ins Innere des Ladens trug. Pur und unvermischt blieb nur der Schweißgeruch des Mannes, den die Schuhverkäuferin mittlerweile als den Vater des Mädchens angesprochen hatte. Sie bot ihm ein Papiertaschentuch für sein tropfendes Gesicht. Was für eine Hitze, sagte er, eine Hitze, als ob der Frühling abgeschafft worden sei: eben noch Schnee bis zur Dachrinne, dann Hochwasser vom Keller bis zum ersten Stock und jetzt übergangslos Temperaturen wie im August.
Das Mädchen saß auf dem Schemel, auf dem es die Lackschuhe anprobiert hatte, und war wie gebannt vom Anblick der Schuhe, die immer noch unverpackt in ihrem Nest aus Seidenpapier lagen, weil die Verkäuferin gerade ein Pflegemittel anpries, das allen Glanz zu bewahren versprach.
Eine breite Sonnenbahn, die durch die offenstehende Tür auf überladene Regale fiel, schien in diesen Augenblicken allein die Tatsache zu beleuchten, daß unter den vielen hier angebotenen Schuhen kein Paar schöner, wunderbarer sein konnte als dieses weiße, das seine Besitzerin aus einer Welt, in der es Klassenzimmer, Abwasch, morgendliches Weckerrasseln, Fieber, Zeugnisse, Pflichten und Ermahnungen gab, ins Innere eines Märchenreiches tragen konnte: Königstöchter schmückten solche Schuhe oder geadelte Mägde, Aschenputtel, die durch einen Prinzen zu Prinzessinnen und Thronfolgerinnen geworden waren.
Ich wartete in diesen Minuten darauf, daß ein Lehrmädchen mit gewachsten Schuhbändern für meine Wanderstiefel aus dem Lager zurückkehren würde, und hörte, wie der Vater des Mädchens Eindruck auf die rundliche, hübsche Verkäuferin zu machen versuchte. Er bemerkte nicht, daß die Frau vor seinem Schweißgeruch so unauffällig wie möglich zurückwich. Auch von der Ungeduld des Mädchens, das darauf wartete, den Laden endlich im Triumph verlassen zu dürfen, bemerkte er in seinen Bemühungen nichts.
Diese Erstkommunion! sagte er, was für ein Tanz werde um diese Erstkommunion aufgeführt. Jedes Kind neu eingekleidet! Selbst die Buben schicke man neuerdings am Abend vor dem großen Ereignis mit einem Haarnetz zu Bett, damit die gestärkte Frisur in den Federkissen nicht leide. Aber es sei den Kindern ja vergönnt. Zu seiner Zeit habe man am Weißen Sonntag bestenfalls die gebügelten Kleider der älteren Geschwister aufgetragen – und war man ein Einzelkind, dann trug man eben, was sich in den Kästen der Verwandtschaft fand … Arme Zeiten. Heutzutage mußte vom Schleier bis zu den Schuhen alles neu sein. Und das alles nur für einen einzigen Tag. Wann trug ein Mensch denn schon weiße Schuhe. Dabei kamen die Mädchen in Zeiten wie diesen ja wie im Flug in ein Alter, in denen ihnen schwarze Stöckelschuhe und schwarze Spitzenwäsche lieber waren als das Weiß der Unschuld. Hatte er nicht recht? Hatte er nicht recht? War es nicht so? Aber ja, natürlich, das Pflegemittel könne die Verkäuferin ruhig auch einpacken; das war später auch für schwarze, hochhackige Stiefel noch zu verwenden. Jetzt lachte er.
Die Verkäuferin lächelte nur kurz. Obwohl das Papiertaschentuch des Mannes sich vom vielen Abtupfen des Schweißes bereits aufzulösen begonnen hatte wie eine von Speichel durchtränkte Hostie, bot sie kein weiteres Taschentuch an.
Das Mädchen schien kein Wort der Unterhaltung zu hören. Erst als ihr Vater einen weißen Schuh plötzlich aus dem Seidenpapiernest nahm und ihn prüfend in den Händen drehte, schreckte sie aus ihrer Versunkenheit: Was waren das für Zeiten, sagte der Mann, was waren das für Zeiten, in denen einen so was glücklich machen konnte, Kunstlederschühchen!, eine lachhafte Spielerei, die sich wahrscheinlich schon im nächsten Regen auflösen würde. So leicht wie in der Kinderwelt war das Glück tatsächlich nie wieder zu erreichen. Er wüßte ja mittlerweile bessere Anlässe für eine glückliche Stunde, aber die waren hier wohl nicht im Angebot. Oder doch?
Diese Schuhe, sagte die Verkäuferin, ein italienisches Modell, die seien aus echtem Leder,
vero cuoio
, und die Sohle genäht und nicht bloß geklebt. Sie habe in den letzten Tagen vier Paar davon verkauft. Schmuckstücke.
Schmuckstücke? Für den Tagesumsatz vielleicht, sagte der Mann, offensichtlich enttäuscht, daß die rundliche Frau nicht über sein Glück reden wollte. Unglaublich, sagte er, was man heutzutage für so was verlangen konnte. Sein Engelchen, jetzt strich er dem Mädchen übers Haar, sein Engelchen habe sogar das Taschengeld drangegeben, um am kommenden
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