Atlas eines ängstlichen Mannes
Wellenschlags zwischen den Mangrovenwurzeln übertönte. Es war ein drückend heißer Dezemberabend, und aus violetten Wolkengebirgen platzten immer wieder Regenschauer, die innerhalb von Sekunden selbst im Rucksack verstaute Kleidung durchnässen konnten.
Der Steg war ohne Geländer, und ich mußte in der rasch fortschreitenden tropischen Dämmerung alle Aufmerksamkeit darauf verwenden, auf den regennassen Bohlen nicht auszugleiten und mitsamt meinem Gepäck zwischen die Mangrovenwurzeln zu fallen, die wie Krallen aus dem faulig riechenden Brackwasser ragten. Ich kam an zwei Abzweigungen vorüber, fand aber nirgendwo ein Hinweisschild auf einen Strand oder ein Hotel und blieb in der Überzeugung auf meinem Bohlenweg, nur dieser nach Westen und ins schwindende Tageslicht führende könne der richtige sein.
Während sich die Mangroven zu beiden Seiten des Stegs in schwarze Mauern zu verwandeln begannen, schimmerten vor mir noch Wolkenbänke in blassem Rotviolett, bis endlich ein kalter, weißer Schein über die Baumkronen stieg – Neonlicht: Dort mußten Strand und Hotel liegen. Und jetzt hörte ich auch Musik. Sie klang wie die von ländlichen Bands in den Dörfern meiner Heimat auf Hochzeiten und Tanzfesten nachgespielten und nachgesungenen Lieder unerreichbarer Vorbilder, war aber zweifelsfrei erkennbar und mir vertraut:
Love in vain
. Ein Song der
Rolling Stones.
Im Neonlicht war dann allerdings von einem Fest oder einer Hochzeit nichts zu sehen und auch nichts von einem Strand. Auf einer Lichtung des Mangrovenwaldes stand eine große, von einem Blechdach gegen Wolkenbrüche geschützte Plattform auf Pfählen, von der einige Bohlenwege weiter, nun in die Nacht, führten. Die Plattform war mit etwa dreißig leeren Plastiktischen bestückt, die um eine Bühne gruppiert waren, zu der eine mit Lichterketten geschmückte Treppe emporführte. Und dort oben sang ein Mann, dessen Alter ich nicht abschätzen konnte, vor einem Standmikrophon zu einer Begleitmusik, die aus zwei als Seemannskoffer oder Schatztruhen dekorierten Lautsprecherboxen mehr knackte und klirrte als klang. Ein Karaokesänger ohne Publikum.
Ohne menschliches Publikum jedenfalls, denn über ihm, wie an das Blechdach der Plattform geklebt, warteten reglos Geckos, Hunderte blasser Geckos verschiedener Größen auf ihre Beute – Fliegen, Nachtfalter, Mücken, die, vom Licht ebenso unwiderstehlich angezogen wie ich, ein Dutzend Neonröhren in dichten Wolken umschwirrten. Schneetreiben: Die Insektenschwärme im weißen Licht erinnerten an ein winterliches Gestöber. Kam ein Falter, eine Fliege … eine Flocke, einem der Geckos zu nahe, wurde sie Opfer eines blitzschnellen Zuschnappens, nach dem der Jäger aber augenblicklich in seine Reglosigkeit zurücksank. Und zwischen den leeren Tischen wartete eine schwarzweiß gefleckte, struppige Katze mit unverwandt nach oben gerichtetem Blick darauf, daß einer der kleineren, vielleicht noch unerfahrenen Insektenjäger nach einem erfolglosen Vorstoß vielleicht den Halt verlieren und ihr aus dem weißen Blechhimmel vor die Krallen und Zähne fallen würde.
Der Sänger war von zierlicher Statur und so klein gewachsen, daß er sich nach dem Mikrophon strecken mußte, das offensichtlich nicht tiefer zu setzen oder in seiner Halterung festgeschraubt war. Bei manchen Worten erhob er sich auf die Zehenspitzen:
Well, I followed her to the station with a suitcase in my hand.
Seine Stimme erinnerte in keiner Lage an die seines Vorbildes Mick Jagger, klang aber erstaunlich kraftvoll und sicher. Er sang einen Blues. Er war barfuß, mit einer schwarzen Hose und einem weißen, bis obenhin zugeknöpften Hemd aber beinahe festlich gekleidet. Die dunkle, verspiegelte Sonnenbrille, die er trug, sollte seine Darstellung eines Rockstars wohl unterstreichen.
Well, it’s hard to tell, it’s hard to tell, but all true love’s in vain.
Über einen Bildschirm zu seiner Rechten lief Zeile für Zeile der Strophen seines Songs als rotes Leuchtschriftband, aber der Sänger bedurfte dieser Hilfe nicht. Er sang mit erhobenem Kopf über die Schrift hinweg, und manchmal schien es sogar, als wende er sich der Hundertschaft regloser Echsen zu, die sich über ihm im Neonlicht sonnten.
When the train left the station, it had two lights on behind
Well, the blue light was my baby and the red light was my mind.
Ich hatte mein Gepäck abgestellt und an einem der Plastiktische Platz genommen und ließ mich von diesem Sänger
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