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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Muerte
den Quetzal, den prächtigen, scheuen Göttervogel der Mayas, Inkas und Azteken, in seinem Balzflug beobachten.
    Weil ein Blick sowohl in den Schlund des Vulkans als auch in die Weiten des von der Himmelskönigin beschützten Landes den krönenden Abschluß jedes Besuches bei
La Negrita
bilden sollte, durfte nun auch ich als Mitreisender hoffen, ein vom Busfahrer über Lautsprecher gepriesenes Panorama zu genießen: Von einer Felskanzel am Kraterrand des Irazú sollte im Süden der Pazifik, im Norden der karibische Atlantik zu sehen sein. Aber als ich gemeinsam mit den Pilgern diesen erhabensten Punkt der mittelamerikanischen, zwei Ozeane voneinander trennenden Landbrücke erreichte, lag unter uns nur ein nach allen Seiten wogendes Nebelmeer.
    Nuestra Señora de Los Ángeles
hatte ich statt eines Ortsnamens auf dem Schild an der Frontscheibe des Wallfahrerbusses gelesen,
Unsere Frau von den Engeln
. Aber seltsamerweise waren die Legenden, die sich um die Himmelskönigin rankten – Geschichten von der Entdeckung der schwarzen Steinfigur durch eine Brennholzsammlerin, Geschichten von den beharrlichen himmlischen Fingerzeigen, die zum Bau einer Kirche über dem Fundort führten –, im Verlauf der dröhnenden Serpentinenfahrt in die Höhen des Irazú von anderen, älteren Geschichten überlagert worden. Denn als der Busfahrer seinen Passagieren mein Ziel nannte – die Reviere des Quetzal am Cerro de la Muerte, dem Todesberg, über den die höchste Paßstraße Costa Ricas zur Hauptstadt hinabführte –, schien der christliche Himmel gegen den indianischen des Quetzal ähnlich zu verblassen wie der Glanz Cartagos unter den Aschewolken des Irazú.
    Quetzal! Dieser leuchtend grüne, papageiengroße Vogel mit seiner scharlachroten Brust und seinen armlangen Schwanzfedern, den ein glücklicher Beobachter im Nebelwald aus den Kronen wilder Avocadobäume in einem nur Sekunden dauernden, welligen Flug aufsteigen und im Sturzflug wieder verschwinden sah, hatte die indianische Phantasie über Jahrhunderte beflügelt. Die Azteken hatten mit seinen Federn eine Klapperschlange geschmückt, der sie als
Quetzalcoatl
göttliche Macht zusprachen, und von den Quiché-Mayas wurde erzählt, daß der Quetzal einst ausschließlich grün gefiedert gewesen sei, grün bis zu jenem Tag, an dem die Schergen des spanischen Conquistadors Pedro de Alvarado auf einem Schlachtfeld in der heutigen guatemaltekischen Sierra Madre Tausende Quiché-Krieger, unter ihnen auch ihren König Tecún Umán, erschlugen. In einem brausenden Schwarm seien aus schwarzen Trauerwolken Abertausende Quetzals herabgeflattert und hätten sich dann mit ausgebreiteten Flügeln an tote und sterbende Krieger geschmiegt, um den Seelen auf ihrem Weg aus der Welt beizustehen. So hätten sich die grünen Brustfedern scharlachrot gefärbt.
    Vielleicht, sagte einer der Wallfahrer, ein Lehrer aus Alajuela, als wir im Nebel vom Kraterrand zum Parkplatz zurückgingen, vielleicht würde ich mit der Beobachtung des Quetzal in den Tälern von San Gerardo nicht mehr Glück haben als hier oben mit dem großen Blick auf den Pazifik, den Atlantik. Aber für zwei Weltmeere brauche man eben, wie für einen Göttervogel, vor allem eines: Zeit. Irgendwann in ihrem Lauf zeige sich schließlich selbst das Scheueste und Verborgenste. Irgendwann werde alles offenbar.
    Als wir den Parkplatz erreichten, trieb der weiße, von den Hündchen umkämpfte und aufgegebene Stoffstreifen zwischen geparkten Autos im Wind, wurde von einer Bö erfaßt, erhob sich flatternd über den schwarzen Lavasand und glich so für einen Augenblick einem Vogel, auf den der Lehrer zeigte und lächelnd
Quetzal
sagte. Ein Mädchen fütterte die beiden Welpen an der offenen Tür des Busses mit Weißbrot, und als wir den Bus bestiegen, hob der Lehrer seine Hand noch einmal und zeigte zuerst auf den kleineren der beiden, dann auf den größeren und sagte
Pacífico – Atlántico.

Love in vain
    Ich sah einen schmalen Holzsteg, der an der Ostküste von Sumatra in die Mangrovensümpfe führte. Über eine Abzweigung dieses Steges, so hatte der Steuermann eines Lastenbootes versprochen, das mich mit einigen anderen Passagieren vom Flußhafen der Provinzhauptstadt Pekanbaru an die Straße von Malakka gebracht hatte, würde ich den Strand und dort einen Pfahlbau erreichen, ein Hotel.
    Also folgte ich dem Steg, bis der Lärm der Anlegestation in meinem Rücken so leise wurde, daß ihn schließlich selbst das Glucksen des

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