Atlas eines ängstlichen Mannes
Straßenarbeiter hinab und fragte ihn etwas, zu dem er lächelnd nickte.
Er kletterte aus der Grube und wischte sich die Hände an einem Papiertaschentuch ab, das die Frau ihm reichte, nahm dann aus ihren Händen eine Kamera und wohl auch Hinweise entgegen, daß alles bereit sei, Belichtung, Entfernung, Schärfe, er habe nur diesen Knopf zu drücken, ja genau, diesen. Dann lief sie über das Brett zu den posierenden Männern, ließ sich von ihnen in die Mitte nehmen und gab dem Fotografen ein Zeichen.
Der Straßenarbeiter hielt die Kamera mit ausgestreckten Armen vor seiner Brust wie eine Monstranz und drückte einen unhörbaren Auslöser. Noch einmal, ein zweites Bild! Die Frau wollte sichergehen. Auf der Stirn des Fotografen glänzten Schweißperlen. Noch ein unhörbares
Klick
. Zufrieden lief die Abgebildete über die Brücke auf den Fotografen zu, nahm ihm die Kamera ab, wischte das Gehäuse mit einem weiteren Papiertaschentuch blank und steckte sie in ihre Handtasche.
Der Straßenarbeiter stieg in seine Grube zurück und verfolgte, reglos auf seine Spitzhacke gestützt, wie die Begleiter der Frau begannen, die mitgebrachte Tafel an die Haustür zu nageln. Aus der Distanz des Grabens waren die Zeilen gerade noch zu erkennen. Es waren Angaben zu den Ordinationszeiten eines Hypnotiseurs, der nur an drei Tagen in der Woche trancewillige Klienten empfing.
Die drei Fußgänger, Vermieter vielleicht, Hausverwalter, Hypnotiseure oder Innenarchitekten, waren längst im lichtblauen Haus verschwunden, als der Mann in der Grube immer noch reglos dastand und auf das Schild starrte. Dachte er an die winzige Kamera, die in seinen Händen beinah verschwunden war, oder daran, seine Spitzhacke gegen ein solches Leichtgewicht, ja gegen ein anderes Leben einzutauschen, in dem alles, was schwer wog, Erdreich, Steine, Ziegel, Holzeimer voll Teer, von anderen getragen, von anderen gehoben, von anderen bewegt wurde? Wie gebannt stand er da. Wie in Trance stand er da. Dann ließ er die Spitzhacke los und setzte das Verschalungsbrett, den schmalen Steg, der seinen Graben überbrückt hatte, an die erdige Wand des Schachtes zurück.
Pacífico, Atlántico
Ich sah zwei Hündchen auf einem von Nebelschwaden verhüllten Parkplatz dreitausendvierhundert Meter über dem Meer und dicht unter dem Kraterrand des Irazú, Costa Ricas höchstem und feuergefährlichstem Vulkan. Die Pfoten in den schwarzen Lavasand gestemmt, zerrten sie an einem weißen, mit Spitze besetzten Stoffstreifen, der Teil eines Ballkleides, eines Vorhangs oder eines Brautschleiers hätte sein können. Als bestünde zwischen ihnen die Übereinkunft, das Objekt ihrer Begierde nicht zu zerfetzen, sondern es dem Rivalen so unversehrt wie möglich abzujagen, gaben sie zwar um keine Pfotenbreite nach, zogen aber auch nicht über die Reißfestigkeit des Gewebes hinaus an der Beute und standen deshalb, zitternd vor Anstrengung, vor Gier, vielleicht auch vor Kälte, knurrend und wie gebannt vom Blick des Gegners, still.
Ich ging gemeinsam mit anderen Passagieren eines vom Steinschlag verbeulten Reisebusses, der im Nebel des Parkplatzes auf uns warten sollte, an den Welpen vorüber zum Schlund des ungeheuerlichen, mehr als einen Kilometer breiten Hauptkraters, an dessen Grund ein Säuresee in giftigem Grün schimmerte. Einige Buspassagiere begannen am Kraterrand und beim Anblick des Sees – wie schon zuvor während der Fahrt in die nebeligen Höhen – wieder zu beten, waren doch die meisten von ihnen auf der Rückreise von einer Wallfahrt zur Schwarzen Madonna von Cartago.
La Negrita
, eine von goldenen Strahlen umspielte Marienfigur aus Vulkangestein, der die Wallfahrer in der großen Basilika von Cartago durch die ganze Länge des Hauptschiffes auf den Knien entgegengerutscht waren, konnte gar nicht oft genug angefleht werden, die Menschen vor dem Höllenfeuer aus dem Herzen der Erde zu bewahren. Cartago war aber trotz aller durch die Jahrhunderte vorgetragenen Bitten immer wieder von Erdbeben und Vulkanausbrüchen zerstört worden und hatte im Ascheregen des Irazú vieles von seinem Glanz, schließlich sogar seine Hauptstadtwürde, an San José verloren.
Der Fahrer des Busses hatte mir auf dem Platz vor der Basilika auf meine Frage nach einer Mitfahrgelegenheit angeboten, mich in Richtung San José bis zur Abzweigung nach San Gerardo de Dota mitzunehmen. Ich wollte dort der Empfehlung eines Ornithologen folgen und in den Nebelwäldern im Schatten des
Cerro de la
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