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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Sonntag nicht die Schuhe der älteren Schwester tragen zu müssen. Was für ein Dickkopf, die Kleine. Jeden Tag war sie mit einer anderen Neuigkeit vom Schaufenster des Schuhladens nach Hause gekommen, einem weiteren Grund, diese und nur diese Lackschuhe zu kaufen. Lackschuhe! Gab es denn etwas Unpraktischeres, Nutzloseres als weiße Lackschuhe?, der reine Kitsch. Er sei ja gespannt, ob die Freude der Kleinen den nächsten Sonntag überdauern werde. Ein Steinchen, ein Stolpern im Kirchenschiff, eine Pfütze oder ein kleiner Riß im Lack beim ersten Kniefall vor dem Altar – und schon war die Pracht dahin.
    Darf ich? sagte die Verkäuferin, als sie dem Mann den Schuh abnehmen wollte, um ihn zu verpacken. Der nützte die Gelegenheit, ihr Handgelenk für einen Augenblick zu umfassen; ließ wieder los und strich ihr wie in einem noch im Ansatz wieder abgebrochenen Versuch einer Umarmung, über die Schulter. Natürlich, murmelte er, natürlich, bitte sehr.
    Das Mädchen hatte der Schmähung ihrer Lackschuhe mit offenem Mund zugehört. Ihre Miene nahm dabei den Ausdruck einer solchen Enttäuschung an, als erlebte sie in diesem Augenblick zum erstenmal, daß auch das Wunderbarste, Glänzendste und über jeden Zweifel Erhabene nicht bloß angezweifelt und geschmäht, sondern zertreten werden konnte. Sie sah dann nicht einmal mehr zu, wie die Verkäuferin die Schuhe mit Seidenpapierlagen bedeckte, die Schachtel schloß und vorsichtig in eine etwas zu kleine Tragetasche steckte, sondern stand mit dem Ausdruck einer solchen Traurigkeit in dem Sonnenlichtstreifen, der auf dem Teppichboden ein Stück weitergewandert war, daß darüber alles Licht grau wie dieser fleckige Boden zu werden schien.
    Die Amseln waren verstummt. Der Preßlufthammer im Nebenhaus klang, als würde sein Meißel im nächsten Augenblick durch die Regalwand des Ladens schlagen. Der Duft von Flieder und Narzissen hatte sich in einem Geruch nach saurem Schweiß aufgelöst. Die Verkäuferin, jetzt eine blasse, müde Frau, strich einen Geldschein glatt, bevor sie ihn in das passende Fach der Registrierkasse legte, die rasselnd aufgesprungen war. Der Vater schwieg. Und als er seiner Tochter die Tasche mit den Lackschuhen übergeben wollte, streckte sie ihre Hand nicht danach aus.

Anglerin
    Ich sah ein Mädchen mit einer Bambusangel am Bagmati-Fluß in Pashupatinath, dem Tempelbezirk von Kathmandu. Das Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht jünger, stand bis zu den Knöcheln im Schlamm und zog eine Angelschnur durch das graue Wasser, auf dem Asche, verkohlte Holzstücke, rußige Fetzen und schwarze Klumpen schaukelten, von denen nicht zu sagen war, zu welcher Form sie einmal gehört hatten.
    Immer wieder verhüllten Rauchfahnen die Fischerin, hinter der sich eine Reihe von Ghats aus dem Wasser erhob, steinerne Plattformen, auf denen Scheiterhaufen unter dem wolkenlosen Frühlingshimmel brannten, Leichname brannten. Manchmal fiel ein Arm oder ein Fuß aus einem dieser lodernden Feuerbetten oder gaben die Flammen den Blick frei auf einen in der Hitze geplatzten Bauch, aus dem sich ein graues Knäuel Eingeweide ergoß. Dann warfen weiß gekleidete Männer, Feuerwärter, Grasbüschel in den Brand, damit der Rauch die Schrecken des Verfalls verhülle, und legten, was immer aus dem Bett gefallen war, mit Schaufeln und Gabeln in die Flammen zurück.
    War ein Feuer niedergebrannt, wurden Eimer voll Flußwasser über Asche und letzte Glutnester geleert und mit Reisigbesen in den Fluß gefegt, was bloß verkohlt, aber nicht verbrannt war. Dann wurde die Plattform gespült, bis sie glänzte, und ein neuer, kunstvoller Scheiterhaufen errichtet, der am Ende einem Sarkophag glich, in den ein Leichnam gebettet und mit Scheiten und Reisig bedeckt wurde, damit er nicht bloß in den Flammen, sondern im Herzen des Feuers ruhte.
    Am Ufer, umgeben von ihren klagenden Familien, lagen in safrangelbe Tücher gehüllte Tote, die ein letztes Mal mit dem heiligen Wasser des Flusses benetzt wurden, bevor man ihr Antlitz für immer verhüllte und sie zu den Ghats hochtrug.
    Das Mädchen kehrte den Toten und den Trauernden den Rücken zu, kehrte den Feuern und den Tempeln den Rücken zu, die goldglänzend hinter den Ghats aufragten, und kehrte der Stadt hinter den Tempeln und den weißen Bergketten des Himalaya den Rücken zu, die sich in der Ferne hinter der Stadt in den tiefblauen Himmel erhoben, und hatte allein Augen für seine das Wasser durchschneidende Angelschnur. Nur ein

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