Atme nicht
habe. Ich glaube zum Beispiel, dass ich eine Leber habe, ohne sie jemals gesehen zu haben.«
Sie fuchtelte mit der Hand herum, sodass ihre Fingernägel in der Sonne aufblitzten. »Das meine ich nicht. Hast du noch nie einen Traum gehabt, der dann Wirklichkeit wurde? Oder an jemanden gedacht, kurz bevor er dich anrief? Oder …«
»Das sind Zufälle.«
Sie runzelte wieder die Stirn, und ich konnte förmlich sehen, wie sie sich das Hirn zermarterte und krampfhaft nach einem weiteren Argument suchte. »Dass es Dinge gibt, die man nicht erklären kann, gibst du also zu, ja?«
»Ja. Aber man muss nach dem suchen, was den meisten Sinn ergibt. Die einfachste Erklärung ist immer die wahrscheinlichste.« Ich wrang mein Handtuch aus. Bevor ich dazu kam, mich weiter über das Thema auszulassen, unterbrach sie mich.
»Aber mit Sicherheit weißt du es nicht.«
»Ich weiß, dass Tote, wenn sie reden könnten, über wesentlich wichtigere Dinge sprechen würden als über Hunde, die Frisbee spielen.«
»Sagt wer? Vielleicht können sie das Leben nach dem Tod nicht so beschreiben, dass es uns verständlich wird. Vielleicht geraten sie zwischen zwei Welten, wenn sie mit Menschen reden, die noch am Leben sind.«
Noch vor einer Woche hatte ich nicht mal den Namen dieses Mädchens gekannt und jetzt tauschten wir schon Ansichten über das Leben nach dem Tod aus. Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich ein Gespräch führte, in dem Worte wie »zwischen zwei Welten« vorkamen.
»Dieses Medium wird dir nichts als Quatsch erzählen, der auf jeden zutreffen könnte. Und dann wird sie dein Geld einkassieren. Wie viel zahlst du ihr übrigens?«
»Das geht dich einen Dreck an.«
»Na prima«, erwiderte ich, »aber ich an deiner Stelle würde mir gut überlegen, wie viel ich zahle.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Du gibst mir zwar gute Ratschläge, aber wenn’s drauf ankommt, bist du nicht bereit, mir zu helfen.«
Ich schluckte und wandte den Kopf ab. Obwohl ich versuchte, mir einzureden, dass das alles nicht mein Problem war, spukte mir immer noch ihre Mail im Kopf herum, diese Kleinbuchstaben, dieses »bitte«. Ich sagte mir, dass ich ihr nichts schuldig war. Doch immer, wenn mir jemand erzählte, er kenne jemanden, der sich umgebracht habe, überkamen mich Schuldgefühle, als wäre ich persönlich für alle Selbstmorde der Welt verantwortlich. Warum tut ihr uns das an?, war die Frage, die ich stets mithörte, ganz gleich, ob es so gemeint war oder nicht.
»Ich versuche doch, dir zu helfen«, sagte ich, »aber du willst ja nicht auf mich hören.«
»Pass auf: Wenn es eine Chance gibt, dass dieses Medium mir helfen kann, werde ich es versuchen. Mehr will ich gar nicht.«
»Ja, aber sei vorsichtig. Wenn du an die ganze Sache glaubst, wird sie das ausnutzen und dich …«
»Wieso weißt du denn so viel darüber?«
»Weil ich vor ein paar Jahren ein Buch gelesen habe, über einen Typ, der solche Leute und ihre Schwindeleien entlarvt hat …«
»Du liest viel, nicht wahr.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Versuch zur Abwechslung doch mal, in der Wirklichkeit zu leben.«
»Du bist diejenige, die nicht in der Wirklichkeit lebt.«
Sie sah mich starr an und gab sich alle Mühe, mich mit ihrem Blick zu durchbohren, so wie sie es neulich schon im Souterrain unseres Hauses gemacht hatte. Doch da biss sie bei mir auf Granit, weil ich es jederzeit schaffte, eine Glasscheibe zwischen mir und meiner Umwelt aufzurichten, sodass mir niemand etwas anhaben konnte. Selbst meinem Onkel Frank war es nie gelungen, diese Glasscheibe zu durchbrechen.
Als Nickis Lippen zitterten, wusste ich, dass sie als Erste nachgeben würde. Und trotzdem …
Und trotzdem glaubte ich nicht, dass ich ihr diese Sache würde ausreden können. Sie würde das Medium aufsuchen, egal was ich sagte. So bedenkenlos, wie sie sich unter den Wasserfall gestellt hatte, würde sie sich jetzt in dieses neue Abenteuer stürzen, um die Trennlinie zwischen Leben und Tod zu überschreiten. Allerdings glaubte ich nicht, dass es ihr gelingen würde, diese Grenze zu überwinden. Das schaffte niemand.
»Fährt wenigstens jemand mit dir mit?«, fragte ich. »Vielleicht Angie?«
»Angie ist den ganzen Sommer über bei ihrer Großmutter. Ich komm schon zurecht.«
»Da solltest du aber nicht allein hingehen. Du kennst diese Frau doch gar nicht.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Na, und wer kommt dann mit? Du?«
Ich schlang mir das Handtuch um die Hand.
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