Schattenjahre (German Edition)
PROLOG
Nach den Gesetzen der Logik hätte der Unfall niemals passieren dürfen.
Eine stille Seitenstraße – zumindest still nach den hektischen Londoner Maßstäben; ein klarer, heller Frühlingsmorgen; ein Taxifahrer, voller Stolz auf seine unfallfreie Vergangenheit; eine schlanke, elegante Frau, die um zehn Jahre jünger aussah; keiner der Beteiligten wirkte verwundbar. Und doch schien das Schicksal entschieden zu haben, was geschehen musste. Vor den Augen des Taxichauffeurs überquerte die Frau die Straße, dann blieb ihr hoher Absatz am Gehsteigrand hängen. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte, nicht in die relative Sicherheit des Gehsteigs, sondern auf die Straße, vor das Taxi, dessen Fahrer sich stets an alle Verkehrsregeln hielt, der sich nie so arrogant und gefährlich benahm wie zahlreiche Taxichauffeure in aller Welt.
Er sah die Frau fallen und bremste instinktiv – aber zu spät. Das schreckliche Geräusch, als der zarte Körper der Frau gegen das Auto prallte, würde ihn bis ans Lebensende begleiten. Sein Fahrgast, ein Geschäftsmann um die fünfzig im Nadelstreifenanzug, wurde durch den Zusammenstoß vom Sitz hochgeschleudert. Leute rannten aus den gepflegten Häusern zu beiden Seiten der Straße.
Irgendjemand musste einen Krankenwagen gerufen haben, denn der Taxifahrer hörte die klagende Sirene, die ein Trauerlied zu singen schien … Er ertrug es kaum, die Frau anzusehen, denn er bezweifelte, dass sie noch lebte. Unglücklich stand er am Straßenrand, als die Ambulanz erschien und die Profis ihre Arbeit begannen.
„Sie lebt noch“, hörte er jemanden sagen und stellte sich die Menschen vor, die in diesem Moment noch nicht wussten, welch eine Tragödie ihr Leben zu überschatten drohte. Irgendwo hatte die Frau doch sicher Verwandte und Freunde.
Ihre Mutter, bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, lag in einer Klinik, dem Tode nah. Unglaublich, dachte Sage leicht benommen. Ihre unverwundbare, allgegenwärtige, unbesiegbare Mutter …
Vage, irreale Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf – Erinnerungen, Ängste, Gefühle. Der Porsche, den sie sich selbst zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, meisterte den dichten Verkehr. Seltsamerweise wurde ihre Fahrtüchtigkeit vom Aufruhr in ihrem Innern nicht beeinträchtigt.
Ihr Magen verkrampfte sich wie so oft während ihrer Kindheit und Jugend. Eine beklemmende Mischung aus Besorgnis, Kummer und Zorn erfasste sie. Wie konnte die Mutter ihr so etwas antun und es wagen, in das Leben einzudringen, das die Tochter sich aufgebaut hatte, und deren Unabhängigkeit zu gefährden?
Sage war kein Kind mehr, sondern erwachsen. Warum wurde sie jetzt von den alten, viel zu vertrauten Gefühlen erfüllt, von Wut, Gewissensbissen und Angst?
Das Krankenhaus lag nicht weit entfernt, deshalb hatte man vermutlich sie verständigt, nicht Faye. Und dann fiel ihr ein, dass sie die engste Blutsverwandte ihrer Mutter war. Ein Schauer rann ihr über den Rücken. Wenn die Mutter im Sterben lag … Jahrelang hatte sie sich eingeredet, nichts für die Frau zu empfinden, von der sie zur Welt gebracht worden war. Verrat und Täuschungsmanöver – damit hatte die Mutter verhindert, dass jemals andere Emotionen zwischen ihnen existieren konnten als Hass. Und deshalb fand sie es doppelt schlimm, jetzt diesen Schmerz zu verspüren, diese Angst.
Sie stellte den Wagen auf dem Parkplatz der Klinik ab, stieg rasch und ungeduldig aus. Eine typische Löwin – so hatte Liz Danvers ihr zweites Kind einmal beschrieben: temperamentvoll, ungestüm, ungeduldig, unbeherrscht und intelligent.
Das war vor fast zwanzig Jahren gewesen. Seit damals hatte die Zeit alle rauen Kanten von Sages Persönlichkeit abgeschliffen, die harten Seiten eines Wesens gemildert, das schwächeren Leuten oft zu rau erschien. Jetzt, mit dreißig, vermochte sie jene Energien zu kontrollieren, die ihre ruhigere, viel haltungsbewusstere Mutter hinter einen Wall aus distanzierter Würde getrieben hatten. Mit dem Versuch, diesen Wall niederzureißen, den verborgenen Kern von Liz’ Persönlichkeit zu erforschen, hatte Sage vergeblich einen Teil ihrer Jugend vergeudet. Nur eins wusste sie seit Langem – sie war nicht das Kind, das die Mutter sich wünschte.
Natürlich nicht – sie konnte niemals ein anderer David sein. Sie vermisste ihren Bruder immernoch, seine klugen Ratschläge, seine Liebe, sein Verständnis. Alle hatten ihn geliebt, mit gutem Grund. Seine Güte und Selbstlosigkeit waren
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