Atme nicht
euch.«
Wir ließen uns auf einem der Sofas nieder, das so muffig roch, als wäre dieses Zimmer jahrzehntelang nicht gelüftet worden.
»Danke, dass ich zu Ihnen kommen durfte, Mrs Hale. Oder haben Sie … wie soll ich Sie denn anreden?« Nickis Stimme war um eine Oktave hochgeschnellt, als wäre sie jünger geworden, seit wir das Haus betreten hatten. Sie presste die Hände gegeneinander.
»Bitte sag Andrea zu mir«, erwiderte das Medium.
Andrea Hale. Dann nannte sie sich also nicht Madame Zorelda oder so. Und sie lächelte weiterhin auf ihre großmütterliche Art, als wolle sie uns frisch gebackene Kekse anbieten statt einer Audienz bei den Toten.
Nicki kramte in der Tasche ihrer Shorts und zog ein paar zerknitterte Scheine heraus. Erst mal Geld auf den Tisch, klar.
Nachdem Andrea das Geld in einer Schublade verstaut hatte, setzte sie sich auf das andere Sofa. »Mit wem möchtet ihr denn sprechen?«
»Sollten Sie uns das nicht sagen?«, warf ich ein.
Andrea lächelte. »Es gibt viele Seelen, die vielleicht mit euch sprechen möchten. Wir würden Zeit sparen, wenn ich mich auf jemand Speziellen konzentrieren könnte.«
Obwohl ich kein Wort von dem, was sie von sich gab, glaubte, bekam ich eine leichte Gänsehaut, als sie das mit den Seelen sagte, die angeblich mit uns sprechen wollten. Als würden sich Horden von Toten an den Toren drängen. Vielleicht würden sie ja in die Figürchen fahren, sodass unzählige kleine Porzellantiere durchs Zimmer schwirren würden.
»Mit meinem Dad«, sagte Nicki und räusperte sich. »Sein Name war Philip Thornton.«
Andrea nickte und schloss die Augen.
Im Hintergrund knackte und klapperte eine alte, am Fenster angebrachte Klimaanlage. Nicki zitterte, doch nicht vor Kälte, denn in diesem muffigen Zimmer mussten mindestens dreißig Grad sein. Ich warf einen Blick auf die Regale, auf all die Porzellanfigürchen mit ihren starren schwarzen Augen, und sah rasch wieder weg.
Andreas Stirn legte sich in Falten, ihre Lippen gerieten in Bewegung. Nicki hielt die Luft an, bis sie es nicht mehr aushielt und laut durchatmete. Ich schob mein Knie in ihre Richtung, ohne sie zu berühren – nur um sie daran zu erinnern, dass ich bei ihr war.
Andreas Augen blieben geschlossen. Draußen auf der Straße rumpelte ein Lastwagen vorbei und brachte das Haus zum Beben. Die Porzellanfigürchen klirrten. Erneut stellte ich mir vor, wie sie zum Leben erwachten. Vielleicht rannten sie nachts ja wild im Haus herum. Dann wurde mir klar, dass ich, wenn ich weiterhin solche Überlegungen anstellte, wieder in der Klinik landen würde.
»Philip ist da«, verkündete Andrea.
Rasch blickte ich im Zimmer umher, um nach einem Schatten oder Nebel oder einer Luftbewegung zu suchen. Fehlanzeige.
Nicki atmete tief durch, an ihren Wimpern hingen Tränen. Ich hoffte inständig, dass sie nicht zu schnell an all das glaubte, dass sie nicht in den Teich sprang, ohne sich vergewissert zu haben, ob er überhaupt Wasser enthielt. »Äh … ja«, sagte sie. »Erinnert … erinnert er sich an mich?«
Schweigen. Dann lächelte Andrea. »Ja, natürlich. Du bist seine Tochter. Er würde dich nie vergessen.« Sie kicherte. »Er lacht, weil du annimmst, er könnte dich vergessen. Aber eigentlich ist er traurig. Weil ihr nicht mehr Zeit zusammen verbracht habt.«
Nickis Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, bis ihre Haut sich bläulich färbte. »Fragen Sie ihn, warum er es getan hat.«
»Warum er es getan hat«, wiederholte Andrea, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte.
Tja, dachte ich, viele Anhaltspunkte gibt das nicht gerade her, was, Andrea? Jetzt musst du dir aber schnellstens was einfallen lassen!
»Ja«, sagte Nicki mit fester Stimme.
»Er glaubt nicht …«, stammelte Andrea. »Er kann es nicht erklären. Er möchte … Es ist sehr kompliziert, und er ist sich nicht sicher, ob du es verstehen würdest …«
»Ich verstehe es nicht . Deshalb bin ich ja hier.« Nicki strich sich mit der Hand über die Wange, um die Tränen abzuwischen.
»Er lässt dir sagen, dass er dich liebt.«
»Ja, das weiß ich! Das weiß ich doch. Ich will wissen, warum er …« Bevor Nicki mehr verraten konnte, trat ich ihr auf den Fuß. Sie sah mich wütend an. Ihr Gesicht war voller Flecken, ihre Augen hatten sich gerötet. »Ich will wissen, warum er getan hat, was er getan hat.«
Andrea runzelte die Stirn, als könne sie eine Antwort daraus hervorquetschen. »Es tut ihm leid«, verkündete sie
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