Atme nicht
mich nach vorn und stemmte die Hände auf die Schenkel. Ich war wirklich nicht mehr in Form. »Wo ist deine Schwester?«
»Keine Ahnung.« Er blies Rauch in den Wasserdunst und zeigte auf ein neues Schild, das an einem der Bäume befestigt war: SCHWIMMEN UND TAUCHEN VERBOTEN. Obwohl mir dieses Schild, das inmitten des üppigen Grüns irgendwie künstlich und deplatziert wirkte, überhaupt nicht gefiel, konnte ich nachvollziehen, warum man es dort angebracht hatte.
»Sieh dir das an«, sagte Kent. »Sie versuchen’s immer wieder. Trotzdem wird es bald jemand abreißen.«
»Vermutlich sind sie dazu verpflichtet, weil hier einmal ein Junge umgekommen ist.«
Kent starrte mich an. »Ein Junge? Was für ein Junge?«
»Bruce Soundso. Nicki hat mir von ihm erzählt. Sie sagte, sie sei dabei gewesen, als es passierte.«
Kent stieß ein Bellen aus. Lachen konnte man es wirklich nicht nennen. »Das war kein Junge. Das war unser Dad.«
»Was?«
Ich trat näher an ihn heran. Der Wasserfall toste so laut, dass ich ihn nicht gut verstehen konnte. Aber mir war so, als hätte er gesagt Das war unser Dad .
»Unser Dad ist hier gestorben.« Kent zeigte mit seiner Zigarette auf den oberen Teil des Wasserfalls. »Von da oben ist er runtergesprungen …« Die Zigarette beschrieb einen Bogen durch die Luft. »... und mit dem Kopf zuerst hier unten gelandet. Nicki war gar nicht dabei. Nur ich und Matt.«
Ich starrte ihn an, während es mich heiß und kalt überlief. »Euer Vater?«
»Ich dachte, das hätte sie dir erzählt. Ihr steckt jetzt doch ständig zusammen.«
Ich wischte mir den Wasserdunst aus dem Gesicht.
»Wahrscheinlich hätte man es für einen Unfall gehalten, aber Matt und ich haben ihn springen sehen. Mann, einen Scheißkopfsprung hat er gemacht. Außerdem hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen?« Und Nickis ganzes Gejammere, weil er es nicht getan hatte? Was … warum …
»Na ja, keinen richtigen Abschiedsbrief. Ich ertrage es nicht mehr, es tut mir leid . Als ob uns das was gesagt hätte, was wir uns nicht selbst denken konnten.« Kent zog an seiner Zigarette. »Ich hab ihn nicht landen sehen, aber Matt hat’s gesehen. Ich hab die Augen zugemacht. Gehört hab ich’s natürlich. Klang wie WUMM!« Kent schüttelte sich. »Da hatte ich ’ne ganze Weile dran zu knabbern. Matt ebenfalls. Nicki war wütend, weil Dad ihr an dem Tag nicht erlaubt hat mitzukommen. Aber sie kann froh sein, dass sie nicht dabei war.«
»Das tut mir leid«, sagte ich.
»Komisch, dass sie dir das nicht erzählt hat«, meinte er. »Manchmal blicke ich bei ihr einfach nicht durch.«
Ich ging nach Hause und setzte mich an den Computer. Hatte Nicki wirklich gelogen? Woher wollte ich wissen, dass Kent die Wahrheit gesagt hatte? Ich fing an zu recherchieren.
Die Zeitungsartikel waren nicht schwer zu finden. Mann stirbt bei Badeunfall lautete die Überschrift des ersten Artikels. Doch im zweiten Artikel wurde von Selbstmord gesprochen und der Abschiedsbrief erwähnt, ohne dass auf den Inhalt eingegangen wurde.
Philip Thornton war in Gegenwart seiner zwei Söhne vom Felsen ins Wasser gesprungen. Seine Frau und seine Tochter waren zu Hause gewesen. Er hatte sich das Genick gebrochen und war auf der Stelle tot. Die Stadtverwaltung hatte den Wasserfall mit spanischen Reitern abgesperrt und Warnschilder aufgehängt. Ich überlegte, wie lange es wohl gedauert hatte, bis die Absperrung verschwunden war.
Wie benebelt checkte ich meine Mails. Val wollte wissen, ob wir uns am nächsten Wochenende in der Klinik treffen könnten, um Jake zu besuchen. Ich sagte zu. An Val zu denken tat weh, wenn auch inzwischen ziemlich gedämpft, als wäre sie ein Knochen, den ich mir mal gebrochen hatte, der inzwischen aber verheilt war und mir nur noch bei Regen zu schaffen machte. Wenn Jake uns brauchte, war es jedenfalls kein Problem für mich, sie wiederzusehen.
Außerdem hatte ich eine Mail von Jakes Mutter, die mir für die Karte dankte und mir mitteilte, dass er mich sehen wolle. Ich schrieb ihr, dass Val und ich ihn am nächsten Wochenende besuchen würden.
Ansonsten war nur Spam da. Ich stand vom Schreibtisch auf und ging zum Wandschrank hinüber. Als ich sah, dass die Stelle, wo die Tüte gelegen hatte, leer war, zog sich mein Inneres krampfhaft zusammen. Dann wurde mir wieder klar, dass sie für immer leer bleiben würde. Das Treffen mit Amy schien Jahre zurückzuliegen.
Ich warf mich aufs Bett und
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