Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
Vom Netzwerk:
mich auf ein Gespräch mit ihr einzulassen, das möglicherweise eine ähnliche Wortflut bei ihr auslösen würde wie im Diner.
    Ich blieb vor meinem Wandschrank stehen und drehte den Türknauf.
    Die braune Papiertüte lag immer noch im obersten Regal.
    In diesem Moment wurde mir wieder bewusst, dass ich Nicki davon erzählt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich jemandem davon erzählt.
    Ich hatte ihr das Durchgeknallteste erzählt, das ich je getan hatte, und sie war nicht schreiend davongerannt. Und unter meinen Füßen hatte sich auch nicht der Boden aufgetan.
    Ich hatte diesen Pullover nie gewollt, doch jetzt sah ich zum ersten Mal eine Möglichkeit – und zwar eine, die nicht nur in meiner Einbildung existierte –, ihn loszuwerden.

19
    Am nächsten Tag stand ich früh auf, um joggen zu gehen. Beim Laufen dachte ich einzig und allein über meinen Pullover-Plan nach, um ihn in allen Einzelheiten auszuarbeiten. Was das Ende betraf, spielte ich unzählige verschiedene Möglichkeiten durch. Ich sagte mir, dass die Vorstellung, die Polizei würde mich in Handschellen abführen, einfach lächerlich war. Nicht einmal Amy Trillis würde in einer solchen Situation die Cops rufen, oder?
    Es sei denn, sie wollte eine einstweilige Verfügung erwirken.
    Meine Füße platschten durch den Schlamm, der mir gegen die Waden und bis auf meine Shorts spritzte. Obwohl ich versuchte, mich auf den Rhythmus meiner Füße zu konzentrieren, tauchte immer wieder Amys Bild vor meinem inneren Auge auf. Manchmal sah ich alles um mich herum wie durch einen pinkfarbenen Filter, als hänge ihr Pullover vor meinem Gesicht.
    Ich rannte schneller und schneller, bis ich derart schwitzte, dass ich glaubte, gleich zu zerfließen. Vielleicht würde es mir ja gelingen zu schmelzen, bevor ich Amy gegenübertreten musste. Dann würde ich zu einer Pfütze werden, die im Boden versickerte und durch die Baumwurzeln in den Stamm aufstieg.
    Doch am Ende des Laufs war ich – obwohl völlig durchgeschwitzt und über und über mit Schlamm bedeckt – immer noch da.
    Als ich unter der Dusche stand, zwang ich mich, an gar nichts zu denken, weil ich mir sagte, dass ich alle Möglichkeiten durchgegangen war. Beziehungsweise sie »visualisiert« hatte, wie man das in der Klinik nannte.
    Ich stellte die Brause so ein, dass mir das Wasser wie heiße Nadeln auf den Körper prasselte, hielt den Kopf darunter und schrubbte mir die Kopfhaut. Wenn ich in dem Moment die Zeit hätte anhalten können, hätte ich es getan.
    Ich fuhr mit dem Fahrrad nach West Seaton, wo Amys Tante ein Restaurant namens Gingerbread Café besaß. Früher hatte Amy dort gearbeitet und vielleicht tat sie es immer noch. Zumindest würde man im Café über sie Bescheid wissen. Ich kannte ihre Adresse nämlich nicht und wollte auch nicht versuchen, sie herauszufinden, um mir nicht noch mehr wie ein Stalker vorzukommen.
    »Arbeitet Amy noch hier?«, fragte ich das Mädchen hinter dem Tresen des Cafés. Sie trug einen Augenbrauenring, was ihrem Gesicht einen permanent überraschten Ausdruck verlieh.
    »Sie ist hinten«, antwortete das Mädchen, »hat aber gerade zu tun.«
    »Wann macht sie Feierabend?«
    »Um zwei.«
    Jetzt war es halb eins. Die anderthalb Stunden schienen mir eine endlose Zeitspanne, aber nachdem ich so lange mit dem Pullover gelebt hatte, würde ich auch das sicher noch aushalten.
    Ich ging in die Bibliothek, setzte mich in eine dunkle Ecke der Geschichtsabteilung und versuchte, eine Zeitschrift zu lesen, doch die Worte auf dem Papier blieben nur tote Buchstaben. In der Bibliothek roch es angenehm nach Papier und Staub.
    Ich bemühte mich, mir die Szene mit Amy nicht in allen Details vorzustellen. Zum hundertsten Mal ging ich durch, was ich sagen wollte, vermied es aber, mir auszumalen, was sie erwidern und was ich wiederum entgegnen könnte. Ich würde den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Falls sie lachte, mich anschrie, vor mir zurückwich, sich über mich lustig machte – nein, ich musste aufhören, darüber nachzudenken.
    Seit über einem Jahr wartete ich darauf, dies tun zu können; ich konnte es kaum glauben, dass es heute tatsächlich so weit war. Es sei denn, ich überlegte es mir noch einmal anders und machte einen Rückzieher. Ich könnte sofort nach Hause fahren und nicht mit Amy sprechen …
    Genug jetzt.
    Ich hatte es satt, den Pullover zu verstecken und ständig zu befürchten, dass ihn jemand entdecken könnte. Ich hatte es satt, wieder und wieder den

Weitere Kostenlose Bücher