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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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gelernt. Sie stach die Brocken, stocherte nach rutschigen Nudeln, saucenglibschigen Kartoffeln, widerspenstigen Salatblättern, buttrigen Möhren, quecksilbrigen Erbsen. Das Essen fuhr auf dem Teller herum, hüpfte über den Rand und huschte über den Tisch, als suchte es Unterschlupf. Lio steckte die Zinken in Weiches und Festes, in Rundliches und Rutschiges. Sie spießte ein Stück auf, öffnete den Mund und stocherte ihre Beute in sich hinein. Sie stach auch mit dem Löffel, rutschte ab und rammte ihr Glas. Es taumelte und kippte. Rasch verbreitete sich der Sirup auf der Tischplatte, lief unter den Teller, eilte der Tischkante zu und stürzte sich verhalten plätschernd hinab. Ein farbiger Zuckerwasserfall, klebriges Orangenpassionsfruchtgetröpfel, grüne Menthe à l’eau. Lio beobachtete regungslos, den Löffel in der erhobenen Hand, das eilig fliehende Getränk.
    »Das kann jedem passieren«, sagte sie und wischte mit der Serviette in der farbigen Flüssigkeit herum. Lio stand ergeben da, während ich unter dem Tisch herumkroch und die Zuckerlachen aufwischte. Danach aßen wir still und in Gedanken unsere erkalteten Teller leer.
    Schnell trinke ich noch ein Glas Weißwein, und jetzt stellt sich das wattige Gefühl hinter den Augen ein. Lio flirtet. Der Wirt schäkert mit ihr, fragt, ob sie noch was will, sie lacht und plinkert mit den Augen, bestellt den nächsten Apfelstrudel, lacht wie eine Geiß. Ich kann es nicht fassen, bestelle den Apfelstrudel ab und rufe:
    »Zahlen!«
    Lio schleckt den Löffel ab.
    »Achkonnypapa«, jammert sie, »ich will noch bleiben, will nicht weg.«
    »Iss auf, wir gehen.« Es fällt mir schwer, Geduld zu bewahren, doch Lio löffelt gehorsam die weißliche Eiscremesuppe. Nichts bereden, nichts erklären, einfach weg. Rot glühende, ungezügelte Wut. Wie kann sie nur. Es ist schon richtig so. Es geht nicht mehr. Nicht mehr so weiter. Ich werfe das Geld auf den Tisch, packe Lio am Arm.
    »Sieh mich an. Sieh mir in die Augen.« Unwillig schaut sie auf.
    »Ich fahre jetzt. Mit dem roten Auto. Ans Meer. Sehen, wie der Schnee fällt, wie es schneit.«
    Da nickt sie, legt den Löffel weg, steht auf.
    Als wir zum Wagen gehen, schaue ich mich verstohlen um.
    »Wo ist sie? Wo ist Josefine?«, fragt Lio prompt. Ich tu so, als hätte ich nichts gehört, weiß aber auch, dass sie nicht lockerlassen wird, sie fragt bereits zum dritten Mal.
    »Hm«, mache ich und schließe den Wagen auf.
    »Ich will Josefine sehen.« Lio lässt nicht nach.
    »Sie musste weg. Muss was erledigen«, lüge ich vor mich hin, und dass wir sie bald wiedersehen würden.
    Dämmerlicht eines frühen Novemberabends. Flocken taumeln. Lio streckt ihnen, um sie aufzufangen, die Hände entgegen. Flächige Schneeflockennester, die auf Lios Handteller und der weit vorgestreckten Zunge zerfließen. Geräuschlos wendet die Schneekönigin den Schlitten, rast dem Nordpol zu, verschwindet vor uns in der Nacht. Unsere Wege trennen sich.
    Eine rote Kette aus Glutpunkten der Fahrzeuge vor uns, das weiße Lichterperlenband der entgegenkommenden Autos. Die weiche Nacht nistet in den dürren Wipfeln der Birken längs der Autobahn. Hinter mir singt das Mädchen eine erfundene Melodie, wortlose Tonfolgen, ein Singsang ohne Anfang, ohne Ende. Kleine anstrengungslose Variationen des immer gleichen unstrukturierten Lieds lullen mich ein. Ohne jeden Anflug von Angst kann ich es mir vorstellen. Leben ohne Lio. Die Zeit ohne das Mädchen. Mich ohne das Kind. Endlich wieder.
    Vor mir leuchtet die Instrumententafel grün und rot, mein Cockpit, umgeben von einer dünnen Haut aus Glas und Blech, ein Kokon, in dem ich mir jeder Einzelheit bewusst bin. Tachometer, Thermometer, Benzinanzeige, Drehzahlmesser – ich fliege über die Eiswüste der Zukunft und nehme die Instrumente wahr: jeden Schalter, jede Rundung, jede Kante. Ich studiere die Schweißnähte an den Röhren, gefrorene Stahlwellen, durch die unsichtbar zentnerschwere Belastungen vibrieren, ein Tupfen Leuchtfarbe auf dem Höhenmesser, die Batterie der Brennstoffventile. Dinge, über die ich noch nie nachgedacht habe, sind nun deutlich sichtbar und wichtig. Ich rase durch den Raum, aber in meiner Kabine umgeben mich Gedanken, frei von Zeit. Die roten Lichter ziehen sich in eine Senke hinab, steigen wieder auf und reißen plötzlich ab vor dem schwarzen Nichts. Das ist der Punkt, an dem ich den Boden verlassen werde. Ein Wummern in den Ohren, ein dumpfes Klopfen auf dem Trommelfell. Eisige

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