Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
legt ihn beiseite, faltet die Hände im Schoß und wartet, bis der Wirt den Teller abräumt. Eiscreme, Schlagrahm, Apfelstrudel, Vanillesauce und Gummibären will sie zum Nachtisch.
»Gummibären gibts nicht«, brummt der Wirt, und Lio nimmt auch das still hin. Sie rechnet nicht mit der Änderbarkeit der Tatsachen, sie rechnet nicht mit der Beeinflussbarkeit der Welt.
Eines Tages ist der gläserne Wurm der Magensonde zum letzten Mal aus ihr herausgezogen worden, und der Löffel kam. Lio hatte noch keinen Namen für ihn, doch sie wusste, dass er kühl war und hart, dass er seinen Inhalt nicht leicht hergab, dass er voll war, dann wieder leer, und dass er irgendwann von mir weggeräumt wurde. Was auf ihm lag, war warm und weich und wurde, wenn es auf den Arm fiel, kühl und klebrig. Lio saß verloren in ihren Empfindungen, ich saß, den Löffel voller Brei an ihren Lippen, und wartete. Wartete, bis ich das Innere ihres Mundes sah, rot und leuchtend und schleimig vom Brei. Da hinein steckte ich den Löffel und wartete. Wartete, dass sie die Zunge bewegte, raus und rein, den Brei bewegte, vor und zurück, und über die Hürde der Lippen wieder nach draußen auf Kinn und Hals. In einer breiten Bahn rutschte dem Kind der verspeichelte Brei als weiße Kaskade über das Gesicht auf Latz und Bauch. Nach gut einer Dreiviertelstunde stellte ich den halb geleerten Kinderteller beiseite, ging auf den Balkon, um zu rauchen und um das Leben zu sehen, das in seiner mittäglichen Hektik durch die Straße eilte. Pink Cloud war nicht zu sehen. Über ihren Laufsteg gingen drei Männer in rosa Hemden und dunklen Anzügen, kaum älter als ich, setzten die braunen Lederschuhe einen vor den anderen, ins Gespräch vertieft. Junge Frauen trugen Knistertüten mit dem Thaiessen vom Take-away in den nahe gelegenen Friedhof. Sommerkleider, spitzes Lachen, High Heels an den Füßen. Ein ganz normaler Werktag im August. Lio hing mit rundem Rücken im Hochstuhl und wartete, bis ich mich gefasst hatte und weiter löffelte. Und wieder stieß und schob und zog sie, bewegte den Brei mit der Zunge vor und zurück. Zwischendrin steckte sie die Finger in den Mund, um die wunden Zahnleisten zu bekauen. Hell tropfte der Speichel über ihre Hände und versickerte in den Ärmeln ihres Kittelchens. Wir übten, übten wochenlang, und ganz allmählich, unmerklich, begannen die Verhältnisse sich zu kehren: Der größere Teil des Breis verschwand in Lios Bauch, der kleinere nur verteilte sich auf Latz, Stuhl, Kleidern und in den Haaren von Vater und Kind. Ich ächzte. Lio lachte. Nur noch ein Jahr sollte es dauern, bis sie den ganzen Brei schluckte, doch damit nicht genug. Sie griff nach dem Löffel und aß selbst. Und Lio aß mit Kraft. Sie hielt den Löffel mit der Faust, stach ihn in den Brei, dass es kleckerte, tropfte und schmierte, doch sie schaffte es, dass sich ein Häufchen davon in der Mulde des Löffels ansammelte, führte diesen Richtung Mund, und, um an den Brei zu gelangen, kippte sie den Löffel, kippte ihn, bevor er im Mund angelangt war, der Brei fiel auf den Latz, rutschte unter den Bügel des Hochstuhls auf die Sitzfläche, über den Fußtritt auf den Boden. Lio zappelte mit den Füßen und leckte den leeren Löffel aus. Noch einmal stach sie in den Brei, fuchtelte, löffelte, kippte und schleckte. Schwere Tropfen fielen auf Tellerrand und Schnabeltasse. Auf Tisch, Latz, Rock und Stuhl. Auf die Rutschsocken, die nackten Beine, den Küchenboden. Ich stand derweil am Fenster und ließ das Leben auf mich regnen wie ein Schaf einen Graupelschauer. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Lio, sah dann wieder in das fremde Leben auf der Straße, das geschäftige Schmatzen und Keuchen des Kindes im Rücken. Als es den Teller halb leer gegessen hatte, hob ich es aus dem Tripptrappstuhl und trug es in die Badewanne, wo ich es bis auf die Windel entkleidete und wieder an den Tisch setzte. Schnaufend nahm es die Löffelübungen wieder auf. Von da an aß Lio nackt. Sie matschte und kleckerte, schaufelte und kippte. Geduldig arbeitete sie sich dreimal täglich durch den Breiberg, nie wurde sie ungehalten, weder mit mir noch mit sich selbst, nie gab sie auf. Sie löffelte und tropfte und schleckte und schmatzte. Und lernte es nicht.
Dass der Brei spritzte und herumflog, dass sie bis in die Haarspitzen bekleckert war, störte sie nicht, sie war zufrieden und lachte. Schallend, meckernd, kichernd und keuchend lachte Lio und steckte mich an, sodass ich den
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