Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Fehler machte, mit dem Kopf zu wackeln, die Augen zu rollen, den Mund zu falten und das Gesicht zu knautschen wie einen alten Lederhandschuh. Lio gickerte, bis sie sich verschluckte, dunkel anlief und in einem Hustenanfall den Brei wieder erbrach.
Nach jedem Essversuch hob ich das Kind aus dem Stuhl und wusch den kleinen Körper mit Seifenschaum. Lio liebte das Wasser, und ich liebte mein Kind – jedenfalls wusch ich lieber das Kind als die Kleider. Danach putzte ich Stuhl, Tisch, Fußboden und spülte das Geschirr, ich ließ Lio essen lernen, badete sie, wischte auf und sank, nachdem ich sie ins Bett gebracht hatte, mit müden Knochen und leerem Kopf auf den Schreibtischstuhl, wo ich über meinen Zeichnungen einschlief.
Eiscreme, Schlagrahm, Apfelstrudel, Vanillesauce. Lio löffelt heute fast ohne zu kleckern. Sie handhabt Gabel und Messer und braucht seit ihrem fünfzehnten Geburtstag keinen Latz mehr. Der Wirt hinter dem Tresen zapft das dritte Bier, ich kann nicht erkennen, für wen, wir beide sind die einzigen Gäste in dem Landgasthof mit viel zu vielen verstaubten Zimmerpflanzen auf den Fenstersimsen. Zwischen ihnen und den vergilbten Gardinen hindurch sehe ich die Frau mit braunem Haar und gelbem Mantel in knöchelhohen Stiefeln auf und ab gehen, dann stehen bleiben und zu uns herübersehen, als wüsste sie, dass ich sie beobachte. Ich trinke meinen Wein aus und stelle mir das Leben ohne Lio vor. Wie es sein würde ohne sie. Wie ich künftig heimkommen, fortgehen, verreisen und unterwegs sein würde, ohne einen Gedanken daran, ob ich es rechtzeitig nach Hause schaffen würde oder ob das Mädchen wieder einmal, weil der Zug Verspätung hatte, weil ich im Stau stand, weil ein Meeting länger gedauert hatte als geplant oder ich Überstunden hatte machen müssen, auf den Treppenstufen vor der Wohnungstür saß, der runde Körper ein einziger Vorwurf. Oder ob ich sie womöglich nicht vorfinden würde, herumtelefonieren müsste, die Polizei alarmieren würde, bis eine wohlmeinende Nachbarin sie mit vielsagendem Blick nach Hause brachte, sie habe sie im Treppenhaus gefunden, und weiß der Himmel, was dem Kind hier hätte zustoßen können. Weiß der Himmel, denke ich, was ihm in der fremden Wohnung zugestoßen war. Fanatisch wachte ich über Lios Umgang, verkündete meine Wachsamkeit in Schulen und Horten, in Ferienlagern und Entlastungsheimen, verfolgte obsessiv die Zeitungsmeldungen, wähnte mich sicher durch all die Kontrollen und Überwachungsmechanismen, die ich in unserem Leben installiert hatte, dennoch ist es passiert. Hier sitzen wir zu dritt, Lio, das Seepferdchen und ich. Meine Tochter hat ein Liebesleben, und ich kann nur hoffen, dass sie Spaß daran hatte, dass sie es gewollt hat. Herauszubringen war nichts aus ihr, es ist auch nicht mehr wichtig. Nur noch das: wie ich frei und ungebundenen Schritts durch die Straßen schlendern würde, da einkehren, dort stehen bleiben, flanieren ohne Ziel und Zeit. Wie ich halsbrecherisch mit dem Rennrad über Bürgersteige, Tramgeleise und rote Ampeln schießen würde, Passanten erschrecken und Tauben aufscheuchen, als wäre ich noch ein junger Mann. Schnell sein. Das vor allem. Flink. Rennen, rasen und mich dem Strom der Passanten überlassen, mich von ihm wegschwemmen lassen in den erstbesten Bus, eine beliebige Kneipe, einen bereitstehenden Zug. Wie ich schnell und unbeachtet durch die Menge gehen würde und keiner mich bemerken würde, keiner würde schauen, keiner würde sich aufgehalten fühlen. Behindert.
Der Wirt fixiert uns, wendet seine Augen nicht von Lio, lässt den Zapfhahn los, stellt das Glas ab und meint mit einem Nicken in Lios Richtung: »So sind die Frauen heute. Erst wollen sie kein Kind, dann erzwingen sie es, wenn es zu spät ist, und dann so was.«
Lio sieht von ihrem Apfelstrudel auf und lächelt. Ich hebe mein Glas zum Zeichen, dass er mir noch eines bringen soll.
»Obwohl«, fährt er fort, »die ist ja ganz nett, nicht ohne Charme, wenn man so will.«
»Wenn man wie will?«, frage ich.
»Ich mein ja bloß.« Er zapft weiter. »So was wäre doch heutzutage nicht mehr nötig. Das kann man doch im Blut feststellen. Ein Stich und man weiß es, bevor man sich so was aufhalst.«
Ich muss rauchen, krame nach meinen Zigaretten.
»Das müssts doch nicht mehr geben heute. So was«, sagt er noch und stellt das Glas vor mir ab.
Eiswirbel, Schneestrudel, weißes Flimmern. Die Hunde vor sich herpeitschen, sie hängen sich ins Geschirr, fliegen
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