Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Luft fließt ins Innere der Kabine. Lio hat das Fenster geöffnet, lehnt die Schläfe ans Glas, der Fahrwind kühlt ihr Schädeldach, zerrt ihr Haar hinaus in die einfallende Nacht. Eine lange sandfarbene Strähne Zuversicht.
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Fünfzig zu fünfzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Seepferd, das in Lio mit kleinen trabenden, schwanzschlagenden Bewegungen auf und ab hüpft, mich ein zweites Mal mit der Blöde schlagen wird. Es wurde zu spät entdeckt, war bereits zu weit entwickelt, als ich gewahr wurde, dass Lios seit Monaten keine Blutungen mehr gehabt hatte. Daher die Trägheit, daher die Bauchschmerzen, daher die rundliche Form, die sie angenommen hatte. Lio konnte mir keine Auskunft über den Kindsvater geben. Von einem Schulfreund, dem Praktikanten eines Ferienlagers, dem Fahrer des Schulbusses, ja sogar Paul, der seit über einem Jahr nicht mehr da gewesen war, gelangten wir zu Roger Federer und endeten bei Prinz Kaspian aus den Chroniken von Narnia. So kamen wir nicht weiter. Eine einfache Gleichung: Lio mal Seepferd ergibt Lio im Quadrat Klammer auf minus Konrad Klammer zu. Nüchternheit und ein rascher Entschluss waren vonnöten. Kein Wunsch meinerseits nach einer Erklärung, nach Wissen über die zärtlichen oder gewaltsamen Vorgänge, während ich nicht hingesehen hatte, während ich nicht bei ihr gewesen war. Sie war eine Frau und hatte ein Liebesleben.
Hier nun, in der Nacht und in die Lichterkette eingereiht, fliegen wir über die hügelige Straße, die sich in die Senken legte, um sich rampengleich in die Nacht zu erheben, mein Höhenmesser spielt verrückt, und ich kann das Rad für die Trimmung nicht finden. Ich bremse ab, gebe wieder Gas, die grünen Lichter blinken, und wir heben uns sachte über die erste Senke hinweg, landen wieder auf der Autobahn, fliegen über die nächste Hebung und dann wieder, noch einmal, bis wir schweben und die Piste unter uns sich schnell in der absoluten Dunkelheit verliert.
Auf einem Rastplatz ein oder zwei Stunden schlafen, dann weiter, der Küste, dem Meeresrand zu.
19:39. Kilometer 693. Ich lande auf einem Lkw-Parkplatz, die Laster stehen aufgereiht nebeneinander wie Zinken auf einem düsteren Kamm und halten die Wartezeiten ein. Vor dem Toilettenhäuschen parkte ich unter einer Laterne und schicke Lio raus, sie will, dass ich mitkomme, ich will, dass sie allein geht. Sie hüpft von einem Fuß auf den anderen. »Bitte, Konny, ach bittebitteee.« Ich stehe in Strümpfen und Hemd in der Novembernacht, ja gut, ich geh die Schuhe holen, doch als ich sie angezogen, den Wagen abgeschlossen habe und zurückgegangen bin, ist Lio weg. Na also, denke ich, es geht doch, hab ichs doch gewusst, und beglückwünsche mich zu ein paar Minuten Pause, pisse in den Grünstreifen und zünde mir eine Zigarette an. Zwischen den Lastern stehen dunkle Schatten, da und dort ist in der Fahrerkabine ein Licht zu sehen, ich hole meine Daunenjacke und halte Ausschau nach Lio, die nicht kommt. Ungeduldig hämmere ich an der Frauenseite mit der Faust gegen die Metalltür, rufe Lios Namen, gehe schließlich hinein und finde alles leer. Noch denke ich mir nichts, gehe auf die Männerseite, wo Rempeln und Stöhnen aus der abschließbaren Kabine dringt, ich hämmere auch gegen diese, rufe Lios Namen und glaube, ein unterdrücktes Wimmern zu hören; als sich nichts bewegt, trete ich gegen die Metallwände, hangle mich schließlich am Rand der Kabine hoch und sehe durch das Metallgitter auf zwei Typen hinunter. Zurück ins Frauenklo. Nichts. Wieder zum Auto. Keine Lio. Sie ist spurlos verschwunden. Im Laufschritt zur Gaststätte, sicher hat sie sich schon ein fettes Schnitzel bestellt. Doch wieder nichts. Kaum Gäste, ich frage die Angestellten, deute mit der Hand auf Brusthöhe Lios Größe an, erwähne den rundlichen Bauch, die himbeerfarbene Mütze, die schwarzen Brauen, die wie Pinselstriche in ihr Gesicht gemalt sind, die schulterlangen Haare, alle schütteln den Kopf. Ich gehe, im Laufschritt jetzt, zwischen den Sattelschleppern lange Wege, rufe Lios Namen, fluche vor Angst, sage ihr, sie soll jetzt aufhören mit dem Scheiß, schaue unter die hochbeinigen Achsen, suche stumm, dann wieder rufend, und kehre dazwischen immer wieder zu meinem Auto zurück, das dunkel dasteht, ein blutroter Kasten mit schwarzem Glas und ohne einen Hinweis auf das Mädchen. Ich will mein Handy holen, um in der Gaststätte ein Foto von ihr zu zeigen, finde es nicht, taste meine Taschen ab, suche in der
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