Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Mittelkonsole, im Handschuhfach, in den Seitenfächern der Türen, unter den Sitzen, nichts. Auch das noch. Zurück ins Männerklo, ist es mir beim Klettern rausgefallen? Nichts. Habe ich es in der Gaststätte liegen lassen oder im Frauenklo verloren? Ich suche alles ab, besinne mich und erinnere mich, dass ich ein Bild vom letzten Winter im Portemonnaie habe. Es zeigt Lio im Schnee auf dem Rodel, es ist verkrumpelt und zerknickt. Doch kann man sie erkennen. Ich renne in die Gaststätte, zeige das Bild herum, ein Mädchen, rundliche Figur, so groß, hellgrüner Anorak und Blue Jeans? Wie sie mich anschauen. Klar. Sieht ja jeder, dass das, was unser Leben ausmacht, die Blöde ist. Ein Teenie, sieht wesentlich jünger aus, als sie ist, mit einer rosaroten Umhängetasche? Mit schwarzen Stiefeln, ja? Mit kleinen Süßwasserperlen im Ohr. Spricht nicht viel. Spricht nicht sehr deutlich. Da ahne ich es bereits. Lio ist kaum eine halbe Stunde verschwunden, und ich denke bereits an Freiheit. Es ist, als ob sich etwas in mir umbiegt, nicht schnell, nicht laut, sondern geräuschlos und in Zeitlupe. Dem folgt ein weißes Nichts. Aber angenehm. Jetzt ist es passiert. Jetzt bist du sie los. Keine Panik mehr. Ich trinke einen Kaffee, suche auch hier die Toiletten ab, doch mehr aus Pflichtbewusstsein und der Vollständigkeit halber. Sitze vor einem doppelten Espresso, rühre Zucker hinein und bin auf einmal sehr, sehr müde. Schwer wie ein Steinblock hocke ich auf der Bank, lege den Kopf auf die Arme und schlafe, als hätte ich Jahre nicht geschlafen. Bewusstlos.
Jemand rüttelt mich am Arm, Lio. Ich sehe auf, doch es ist ein Mann vom Sicherheitspersonal, der mich darauf aufmerksam macht, dass schlafen hier nicht gestattet ist. Ich sehe ihn durch einen Schleiervorhang aus Glaswürmern, lalle vor Müdigkeit, frage nach Lio, er legt mir die Hand auf die Schulter und hilft mir vor die Tür. Der Asphalt ist nass. Es hat zu regnen begonnen. Ich krame nach meinem Handy und erinnerte mich, dass ich es verloren habe. Vielleicht schon bei der Rast am Vormittag. Aber nein, in Mödlareuth hatte ich es noch. Auf dem Weg zurück hoffe ich, Lio im Wagen zu finden, vielleicht schlafend. Doch nichts.
Nach einem langen Augenblick der Starre, in dem ich auf etwas zu warten glaube, tatsächlich jedoch nur der Leere nachspüre, der Gedanken- und Ideenlosigkeit, die sich in mir ausgebreitet hat, starte ich den Motor und fahre im Schritttempo über den Parkplatz, an der endlosen Kolonne schlafender Laster entlang. Immer wieder sehe ich mich um, halte vor einem öffentlichen Fernsprecher, doch als ich den Hebel umlegen will, um die Polizei zu rufen, zögere ich und lasse den Arm wieder sinken. Reglos nehme ich die Erleichterung zur Kenntnis, die wie Nebel aus dem Sumpf meiner geheimen Wünsche steigt und mir den Kopf mit einer dumpfen Glückseligkeit, gefolgt von wilder Freude, füllt.
Ich springe in den Wagen, starte den Motor und drücke das Gaspedal durch. Scheibenwischer, Blinker, schnell hochschalten, aus dem Parkplatz rasen, sich wieder in die Lichterkette einreihen, mit Vollgas weiter. Fort, immer fort. Und von den tausend durchgeknallten Affen meines unerfüllten Lebens gejagt, Hookywooky in der Endlosschleife, rase ich mit geöffneten Fenstern, eisigen Sprühregen im Gesicht, über die A 9 Richtung Dessau. Josefine – ja, das wars, easy come, easy go . Lio, als hätte sie Bescheid gewusst, erfüllt meine geheimste Sehnsucht. Ich bin bereit, sie wegzugeben. Ob hier oder in einem polnischen Weiler. Egal. Das Mädchen ist weg, und ich bin frei. Einfach so.
Fanfarenstoß. Da ist sie, nimm sie dir. Die lang vermisste Freiheit.
Schmierige Schlieren verzerren die Lichter vor meinen Augen, ich hätte die Scheibe putzen sollen, denke ich. Freiheit, denke ich. Helle, tropfenförmige Flecken huschen über mein Blickfeld, wie Funken glitzern die Scheinwerfer der entgegenkommenden Wagen darin. Ohne nachzudenken, ohne zu bremsen oder auch nur mein Tempo zu verlangsamen, rase ich bis Dessau, erinnere mich nur vage an die Adresse, frage mich bei Passanten durch, und als ich bei Josefine ankomme, ist sie nicht da. Wie ein betäubter Esel stehe ich vor ihrer Tür und klopfe und klingle, kann es nicht fassen, dass sie nicht da ist, mich nicht erwartet, wo doch jetzt, genau jetzt, alles neu beginnt. Mit mir. Mit uns.
Eins zu eins die Chance der Beschädigung. Vorausgesetzt, der Vater des Kindes war es nicht. Ein statistischer Wert und noch immer keine
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