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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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mit flackernden Zungen. Die Peitsche huscht über die Fellrücken, die hellblauen Augen rasen, und als sie lacht, die Königin, springen Spiegelscherben, schießen durch das Weiß, das Grau, und hacken sich in Augen, Zungen, Herzen. Mein Glas hat einen Sprung, und im Augenweiß des Wirts mäandern rote Linien. Ich starre auf das Weinglas, das zerspringt, die Scherben fliegen, und gelbes Nass versickert in den groben Kunstfasern des Tischtuchs.
    »Komm, lass uns gehen«, sage ich, doch Lio winkt dem Wirt, und als sich dieser tief zu ihr hinabbeugt, packt sie seine Nase, rüttelt sie, bis ihm die Augen tropfen, und sagt zu dem schwankenden Schädel: »Mach dir keine Sorgen, du bist nicht blöd, bei uns ist keiner blöd, das kann doch jedem mal passieren.«
    Der Mann stöhnt leise, ich löse Lios Finger und ziehe das Portemonnaie aus der Hose.
    »Wir gehen, zahlen bitte.«
    Doch sie bestellt ein Piramisu.
    »Gibts nicht.«
    »Dann Eis mit Schlagrahm.«
    Der Wirt reibt sich die Nase. Er bringt die Scherben weg und legt ein frisches Tischtuch auf.
    Ich stecke mir eine Zigarette in den Mund und gehe vor die Tür. Durchs Fenster beobachte ich meine Tochter, verwünsche und bewundre sie, wie sie zufrieden dahockt mit dem runden Rücken und wartet, bis der Wirt sie bedient. Mein Herz so leicht, schlägt ruhig, und wieder sehe ich mich ohne sie, und Zuversicht steigt auf wie Nebel aus den Wäldern. Ich schlendre über den Parkplatz und sehe auf. Wachtürme, Schießstände, Beobachtungskanzeln, Panzersperren. Vor dem kleinen Museum, in dem die Geschichte von Little Berlin dokumentiert ist, sitzt der Kartenabreißer auf einem Plastikstuhl und genießt die letzten Sonnenstrahlen.
    Auf dem Rückweg zünde ich noch eine Zigarette an, und da steht sie, an mein Auto gelehnt, und als wären wir verabredet – wir sind verabredet –, hebt sie den Kopf und sieht zu mir herüber. Das Lächeln öffnet ihren Mund, und hinter den kleinen Zähnen sind die Innenseiten der Wangen zu sehen. Feuchtes Fleisch, dunkelrosa. Flutartig fällt ihr das Haar über die Schultern. Sie ist grau geworden. Unter den Augen liegen dunkle Schatten, blass das ungeschminkte Gesicht. Sie ist sehr schön. Mit einer einzigen fließenden Bewegung löst sie sich und geht mir entgegen, die Hände in den Taschen. Und als ich zu ihr komme, schlingt sie die Arme um meinen Hals und hängt sich ein wenig an mich an. Ich werfe die Kippe weg und ziehe sie an den Hüften näher zu mir. Über die ganze Länge unserer Körper berühren wir uns. Ich kenne sie und weiß auf einmal, wie sehr ich sie immer noch vermisst habe. Was jahrelang ruhte, bricht auf, packt und überwältigt mich. Ich sehe in die Landschaft, sehe den Stacheldraht, den grauen Novemberhimmel dahinter.
    »Sie hat dich gesehen.« Ich murmle in ihr offenes Haar und spüre, wie sie nickt. Ob sie mit hineinkommen solle, doch ich lehne ab, keine gute Idee, Lio würde sich manches erhoffen, das zu erfüllen ich nicht imstande sei. Den wahren Grund unserer Reise und mein eigentliches Vorhaben verschweige ich.
    »Dann sehen wir uns später?« In ihren geweiteten Augen glimmt Hoffnung.
    »Frühestens morgen. Ich muss noch was erledigen. Hast du die Adresse?«
    Josefine wühlt zuerst in der rechten, dann in der linken Manteltasche, sucht in den Taschen der Jeans, kramt in ihrer Handtasche. Ich zünde mir noch eine Zigarette an. Hinter dem Fenster des Wirtshauses sehe ich zwischen den Zimmerpflanzen Lios Gesicht, sie schiebt die Gardine zur Seite und legt die Hand ans Fenster.
    »Hier ist sie.« Josefine hält mir einen zerknitterten Zettel hin. Ohne ihn gelesen zu haben, nehme ich ihn an mich und zerdrücke ihn in meiner Faust.
    »Bis morgen also?«
    Ich senke den Kopf und sehe zu Boden, wo ich die Kippe austrete. Das kann sie als ein Nicken der Zustimmung verstehen oder nicht.
    »Verstehe.« Sie sieht mich an, küsst flüchtig die Luft über meiner Wange und geht schnell über den Parkplatz davon. Ich schaue zum Gasthof hinüber. Lio hinter dem Fenster löffelt ihr Eis. Ungerührt und mit großer Konzentration führt das Mädchen den Löffel in den hochstieligen Eisbecher, schiebt die schmierige Kugel an den Rand, kippelt mit dem Löffel, bis das schneeballgroße Eis in die Mulde rutscht, führt ihn an den Mund und saugt die zerfließende Masse ein. Sie schlürft und schmatzt und leckt sich die Lippen ab.
    Zum Löffel ist die Gabel gekommen, spitzzinkiges Küchenwesen, kapriziöses Silberfräulein. Lio hat stechen

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