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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Autobahnraststätte kann es nur die Frauentoilette sein. Vula war Lios erste Freundin, eine ältere Kosovarin, die den Kinderhort putzte und mit ihr plauderte, während sie auf mich wartete. Alle Kinder waren bereits gegangen, und ich zirkelte das Mädchen eilig in Jacke, Hose, Schneeanzug und Stiefel oder auch nur ein Paar Sandalen, wenn es Sommer war und das Leben leicht. »Ciao Vulva«, rief Lio laut zum Abschied, und Vula lachte. Ich habe nie herausgefunden, ob aus Freundlichkeit oder aus Verlegenheit. Einmal, als wir bereits zur Hälfte nach Hause gegangen waren, begann Lio zu trappeln, ich klemmte sie unter die Hüfte und rannte mit ihr zurück in den Hort. Lio war so erleichtert, dass wir es geschafft hatten, dass sie, kaum hatte ich ihr die Hosen heruntergerissen, alles im Stehen von sich gab.
    Hier aber, heute und viele Jahre später, wird sie es können. Ich trete die mit Körperflüssigkeiten bespritzte Stahltür auf, schicke Lio hinein und warte. Früher. Wie ich, den warmen Kinderkörper mit dem dicken Bäuchlein an mich gepresst, vor der Schüssel stand und sie hielt. Wie sie nach Waschpulver, Shampoo und Unschuld gerochen hatte, während in der Ecke blutige Binden gammelten und an den Wänden erigierte Schwänze Telefonnummern ausspritzten, schnell erwerbbaren Abbau geschlechtlichen Überdrucks anbietend.
    Ich helfe ihr die Kleider zu ordnen, wir rennen zurück, doch der Pferdeanhänger ist weg. Langsam sickert das Wissen in sie ein, sie bleibt stehen, kein Vorwurf an mich, keine Erinnerung an mein Versprechen.
    Die Grassodensache zog sich hin, immer wieder musste ich in die Agentur oder zum Kunden, immer wieder neue Fassungen, neue Entwürfe machen. Während der Sitzungen ließ ich Lio bei Alice, die mit ihren vier Kindern im Parterre wohnte und mir bald nach Paules Verschwinden angeboten hatte, unsere Wäsche zu waschen, es käme bei ihr auf eine oder zwei Maschinen mehr sowieso nicht an. Sie war es auch, die mich daran erinnerte, mit Lio zum Kinderarzt zu gehen, das Kind sei zu dünn, sie habe ein komisches Gefühl. Ich rief in der Praxis an, hörte nur den Anrufbeantworter. Als ich aufgelegt hatte, klingelte es, und Max fragte, ob wir uns zum Mittagessen treffen würden, er hätte da was für mich. Morgen um eins. Ich sagte zu und fragte Alice, die aber keine Zeit hatte, so nahm ich Lio mit.
    Max brachte Styroporschachteln vom Thailänder, wir setzten uns im Friedhof Sihlfeld auf eine Bank. Das streichholzkurze Gras war eine pelzige Ebene ohne eine blanke Stelle, ohne einen Stängel Unkraut. Jenseits des Kieswegs begannen die Gräberreihen, auf denen polierte Grabsteine standen. Max wunderte sich, dass ich das Kind dabeihatte, und fragte, was Paule mache. Ich stocherte in meinem Curry und sagte ohne aufzusehen, es gehe ihr gut. Reis und Kokossauce mischten sich zu einem orangerosa Matsch, auf lappigen Entenfleischscheiben hingen ein paar lahme, bräunlich verfärbte Basilikumblätter. Ich aß schweigend, während Max von seinen Recherchen für eine geplante Ausstellung zu den Menschenschauen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erzählte. Freakshows nannte er die Zurschaustellung exotischer Naturmenschen in den Zoos und Zirkussen Europas. Auch in der Schweiz. Ja. Basel, Zürich. Damit wurde viel Geld verdient.
    »… richtige Tourneen waren das, auf denen die armen Teufel herumgereicht wurden, bis sie an einer Infektion, am Heimweh oder an den Misshandlungen starben.« Ich hörte mit halbem Ohr zu, denn Lio maunzte und ich musste die Karre rütteln, damit sie wieder einschlief.
    Max hatte ein Ethnologiestudium abgebrochen, um als Rucksacktourist Indien und Australien zu bereisen, bevor er bei der Postilleanfing. Wir lernten uns bei Heini kennen, dessen Wohnung gleichzeitig Redaktion war. Als die Zeitschrift einging, nahm sich Heini, der sein Lebenswerk vernichtet sah, fachgerecht, jedenfalls nach Maßgabe der Sterbehilfeorganisation, der er angehörte, mit Schlafmitteln und einer Plastiktüte über dem Kopf das Leben. Doch Frau Rüdisüli, die gern Foulards von Hermès trug und bei Sprüngli ihre heiße Schokolade und manchmal einen jungen Liebhaber nahm, war aus anderem Holz geschnitzt und mietete der Redaktion einen Abstellraum im Langstraßenquartier, wo sie die Buchhaltung und auch das Archiv der Zeitschrift besorgte. Da Paule nicht mehr dabei war, arbeitete sie sich auch in das Computerprogramm ein und betreute den Server. »Alles eine Frage des Willens und der Intelligenz«, pflegte

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