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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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über die Fuchtelbewegungen des Säuglings. »Wie eine Äffin.« Und es, nachdem es vor Überdruss eingeschlafen war, weggelegt hatte, als wäre es eine Puppe, ein langweiliges Spielzeug, und gesagt hatte, sie wolle es nicht mehr. Sie wolle ein anderes. Ein neues. Heiles. Perfektes.

INKING

10
    Tausend Kilometer, die wir beide fahren. Die Karte Blaugrünweiß in meinen Händen, ich halte sie leicht, drehe sie ratlos. Ein zerfallenes Haus mit eingebrochenem Dachstuhl, daneben eine farbenfrohe Tankstelle, zwei sonnengelbe Zapfsäulen, 95Pb durchgestrichen, ein türkisfarbenes Häuschen, dessen Fenster die halbe Front einnimmt, und darüber ein Schild in kräftigem Rot mit der Aufschrift SKLEP . Die Postkarte zu Lios siebzehntem Geburtstag ist wie alle sechzehn Karten davor um Wochen zu spät gekommen, da wartete das Mädchen schon auf Weihnachten. Ich verspanne die Karte zwischen Daumen und Gegenfingern, biege sie durch und lasse sie vor Lio auf den Tisch springen. Sie nimmt sie, hält sie dicht vor die Augen und liest ihren Namen. Li-i-oh. Tropft auf die Schrift, den glänzenden Karton. Wir sitzen auf einer Betonbank, kauen Brote, drehen den weichen Teig zu Kügelchen, die wir den Spatzen hinwerfen. Das Land liegt in Kupfer und Gold gebadet, schrill aufpfeifend verschwindet ein ICE hinter einer Gleisbiegung im Tunnel, die Wagen auf der Autobahn drängen wie Hornissen, während Kühe auf der nahen Weide die Köpfe neigen, um Gras zu zupfen. Birken säumen einen unruhigen Flusslauf, es stinkt nach Jauche, auf den abgeernteten Feldern liegt regelmäßig verteilt das zu Biskuitrollen gepresste Stroh, noch steht der Mais mit seinen braunen Haarbüscheln und hinter ihm der Gelb senf zwischen all dem Kupfer und Gold der toten Blätter.
    »Ich will was essen, Konny«, hatte sie gemault, und als ich nicht antwortete: »Konny, hörst du nicht, ich sag dir, dass ich Hunger hab und essen will.« Sie sprach mich mit Konny an, seit Mary unser Leben gestreift und diese Namensverstümmelung dagelassen hatte. Mary, die sehr plötzlich wieder verschwand, nachdem sie ein paar Mal morgens in bodenlangen Nachthemden durch die Wohnung getappt war, Schränke geöffnet und wahllos Dinge auf den Tisch gestellt hatte. Zwei Teller, eine Tasse, ein Glas, vier Löffel, ein Messer. Meerrettichschaum, Zwieback, Ketchup und Haferflocken. Essiggurken, Sauerrahm, während sie Kaffee kochte und ihn im Aluminiumkocher vergaß, wo er brodelte und bitter wurde. Sie träufelte drei Löffel Honig hinein und blubberte unentwegt, während ich schweigend meinen grünen Tee trank und eine Zigarette rauchte. Lio schmierte ich ein Honigbrot, das sie still mümmelte. Ich redete ungern am Morgen und hatte das dem Kind schnell beigebracht. Besonders gern erzählte Mary mir die Träume der vergangenen Nacht, in denen ich jedoch nicht vorkam, was mich ärgerte, weshalb ich erst recht nichts sagte, und auf ihre Frage, was ich geträumt habe, erwiderte, ich würde nie träumen. Nach drei Monaten ging sie und kam nicht wieder. Ich stellte fest, dass mir das Geblubber fehlte, die Spitzennachthemden, die Choreografien der Beliebigkeit. Mary war weg, Konny ist geblieben.
    Lios warme Hand packt meinen Ärmel, hält ihn voller Spannung fest, als jetzt ein Wagen mit Pferdeanhänger im Schritttempo vorüberrollt. Eine gelb-schwarz karierte Decke liegt über den Pferdehintern gebreitet, entschieden zu viel Gelb, denke ich, während das Mädchen, behände wie sonst nie, aufspringt und dem Anhänger hinterherläuft.
    »Wie Caruso, wie Caruso«, ruft Lio und läuft davon. Spatzen hüpfen auf den Tisch und picken Krümel aus dem Brotpapier. Die Karte hat der Wind verblasen. Lio hat den Anhänger erreicht und versucht einen Blick auf das Tier zu erhaschen, das mit dem Schweif schlägt und unruhig stampft. Tatsächlich ist es ein Haflinger wie Lios erstes Therapiepferd, ein Gaul, groß und buschig wie ein Wisent, mit einer Kruppe, so hoch, dass die Kinder es mithilfe einer Tretleiter besteigen mussten. Ich hänge den Kopf zwischen die Beine auf der Suche nach der Karte Blaugrünweiß, finde sie und schiebe sie in die Gesäßtasche. Lio beim Pferdeanhänger trappelt von einem Bein aufs andere. Vor Freude, denke ich, doch dann sehe ich an ihrer feuchten Hose den wahren Grund und nehme sie an der Hand.
    »Lass uns zu Vula gehen.« Doch sie folgt mir erst, als ich verspreche, zum Pferd zurückzukehren. Manchmal gehen wir zu den Herren, manchmal zu den Frauen. Auf einer

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