Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
sie zu sagen, und, einmal herausgefordert, unterhielt sie das System nicht nur, sondern entwickelte es auch weiter. Mir blieb wie bisher die Gestaltung der Zeitschrift, ich besorgte Fotos und Bilder, fertigte Graf i ken an und zeichnete die Karikaturen. Gemeinsam schnitten und klebten wir das Layout noch von Hand, bis uns von den Fixogumdämpfen die Gedanken taumelten und wir Lachanfälle bekamen. Max schrieb. Die Neutralitätspolitik bei gleichzeitiger Anbindung an den Transatlantischen Pakt, der autonome Nachvollzug europäischer Rechts- und Handelsgesetze, die italienische Oper und der Geniekult, der Triebstau der Sennen auf der Alp, wir berichteten über alles, was uns unter die Finger kam und sich mit unserem kritischen Blick auf die Schweiz zu vertragen schien: die magere Absolventenzahl von Migrantenkindern an den Hochschulen, die Graswurzelbewegungen in ganz Europa, den Schutz der Alpen vor dem Transitverkehr, die Abschaffung der Armee und die ausstehende Einführung einer Mutterschaftsversicherung, die bereits während der Vierzigerjahre in einer Volksabstimmung beschlossen worden war. Wir kommentierten alles, wir wussten immer Bescheid, wir waren auf der richtigen Seite, doch wenn wir das Layout klebten, wurde uns alles zur Lachnummer. Weil wir das Heft praktisch kostenlos produzieren mussten und es sich nur noch in kleinen Auflagen verkaufen ließ, plünderte Frau Rüdisüli zunächst ihr Haushaltsbudget und akquirierte, als dieses nicht mehr reichte, größere Spendensummen bei der Vermögensverwaltung von Herrn Rüdisüli mit Sitz in Zollikon und Liechtenstein. Sich daran zu stören, fanden wir kleinlich und der guten Sache abträglich, auch ignorierten wir, dass Rüdisüli enge Kontakte zum Rohstoffhändler Marc Rich nachgesagt wurden, hielten es im Gegenteil großspurig für eine Umkehrung des kapitalistischen Ausbeutertums, dabei verkauften wir uns einfach nur. Wir seien die hurenden Söhne der Frau Rüdisüli, meinte Max, während ich das alles nicht so schlimm fand, insgeheim waren mir meine Comics sowieso wichtiger.
Immer wieder kam Max auf Paule zu sprechen, und mein Eindruck war, dass sie mehr als nur Freunde gewesen waren, ich scheute mich jedoch, ihn direkt zu fragen, und dann: Was hätte es geändert? Und, hätte er mir überhaupt die Wahrheit gesagt?
»… ackere ich mich durch das bisschen Literatur, das es zu den Völkerausstellungen gibt.«
Max hatte vor Kurzem einen Job in der Pressestelle des Völkerkundemuseums bekommen.
»Nubier, Kalmücken, Fakire, Lappen und Orientalinnen, Negerfürsten, Eskimos, der Zirkus Hagenbeck und andere Schausteller.« Max monologisierte, während Lio zwanzig Milliliter Adapta Erstlingsmilch trank und erschöpft wieder einschlief.
»Bis 1960 ging das so und war immer noch nicht zu Ende. Sambatänzerinnen im Hallenstadion und thailändische Musiker, die zur Geburt des Elefantenbabys im Zoo spielen – das sind die neueren Auswüchse dieses Exotismus, obwohl …«, unterbrach er sich selbst. »Das ist was anderes.«
»Inwiefern?«, fragte ich zerstreut.
»Die kriegen Geld dafür und sind schließlich freiwillig gekommen.«
»Trotzdem sind sie nichts als Ausstellungsstücke. Farbenfrohes Beigemüse«, entfuhr es mir.
Keine Ahnung, was mich so wütend machte. Mit dem Kind im Arm spürte ich, wie ich zu schwitzen begann, und nahm Lio das Häubchen ab. Max starrte auf den feuchten Haarbusch, der sich als dunkler Flaum über die Stirn ausbreitete und mit den Augenbrauen verwuchs. Ich tat, als bemerkte ich sein Befremden nicht, und sah stur geradeaus.
»Komm doch mal zum Abendessen zu uns«, sagte er nach einer langen Pause, »die Kleine kannst du sicher mitbringen. Ich frag Regula.«
Seit gut einem Jahr lebte er mit Regula zusammen, die nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in den Fixerstuben arbeitete, wo sie keimfreie Spritzen an die Junkies abgab und Kondome an die Mädchen vom Straßenstrich verteilte. Lio bewegte im Schlaf die Lippen, als saugte sie.
»Ja … vielleicht … weiß nicht.« Ich bettete das Kind an meine Schulter und tätschelte ihm den Rücken. Es streckte die Arme durch, rülpste und erbrach den größten Teil der Milch in meinen Hemdkragen.
»Halt mal.« Max übernahm das Kind und platzierte es auf dem äußersten Punkt seines Knies, wo es zusammengesunken hockte und auf den Kiesweg glotzte. Ein bleicher Speichelfaden fiel auf Maxens rahmengenähten Lederschuh. Ich öffnete das Hemd und wischte mir mit einer Stoffwindel den
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