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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Milchschleim vom Hals. Max sah mir dabei zu.
    »Was macht Paule?«, fragte er noch einmal, und als ich nicht antwortete, setzte er nach: »So etwas sollte die Mutter machen. Frauen können das einfach besser.«
    Wieder schwieg ich.
    »In diesem vorsprachlichen Alter hat das Kind keine engere Bindung als die zur Mutter«, fuhr er in gelehrtem Ton fort.
    »Sie arbeitet«, log ich und wünschte, ich wäre zu Hause und allein. Ich knöpfte mir das Hemd zu, legte Lio zurück in den Wagen und schob ihn ein paar Schritte, um dem Gespräch zu entkommen. An der Umfassungsmauer des Friedhofs blühten Bäume und Sträucher. Rosa Blütenwolken lösten sich und wurden vom leichten Maiwind herumgewirbelt wie Schneeflocken.
    »Wenn ihr Hilfe braucht mit der Kleinen …«, sagte Max, der mir nachgekommen war. »Ich meine, bist du sicher?« Er zögerte. »Ist alles in Ordnung mit ihr?« Er sprach mit gedämpfter Stimme. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel, der von solch dichtem Blau war, dass er wie eine flüssige Wand aussah. Sehr nah und unerreichbar weit weg.
    »Ganz sicher«, antwortete ich und warf die Styroporschachtel mit dem rosa Matsch ins Gebüsch.
    »Ich muss.«
    »Was? Was musst du?«
    »Weiter. Nach Hause. Das Kind. Ich muss Dinge tun«, sagte ich ungehalten.
    »Zeichnest du?« Max wechselte das Thema und quälte mich weiter.
    »Ja, genau. Ich muss zurück ans Zeichenbrett.«
    Irritation flackerte in seinem Blick und erlosch in Verständnislosigkeit.
    »Lass uns telefonieren«, sagte ich versöhnlich, »ich ruf dich an«, und schob den Wagen in einer schaukelnden Bewegung hin und her, dann hastig: »Machs gut, Max.«
    Der Kies knirschte unter meinen Schritten und unter den vier kleinen Doppelrädern von Lios Gefährt. Rasch aus dem parkähnlichen Friedhofsgelände auf die Straße, zur Tramhaltestelle, die Karre in die erste Bahn gehievt, Türen zu, weg.
    Der Anrufbeantworter in der Wohnung blinkte nicht. Die Automatenfrau sagte: Keine … neue … Nachricht. Und ich fragte mich, was Max mir hatte anbieten wollen, weshalb wir uns getroffen hatten. Lio workste und erbrach noch einmal zähen Schleim, der sich in ihrem Bett und Haar verteilte. Als ich zu ihr kam, sah sie mich fröhlich an und ruderte mit den Armen. Ich nahm das Telefon und ließ mir einen Termin beim Kinderarzt geben.
    Der Arzt, ein klein gewachsener, magerer Mann mit Vollbart, war ein Anhänger der Lehre Rudolf Steiners und sprach mich mit Frau Michaelis an, denn nach seiner Auffassung war das Zusammensein mit dem Säugling ausschließlich Frauensache und die Beteiligung des Vaters ein Vergehen gegen die naturgegebene Ordnung.
    »Darf ich Ihnen einen pädagogischen Rat geben?«, fragte er mit leiser Stimme, und ich lehnte mit ebenso leiser Stimme dankend ab. Daraufhin verließ er den Raum, und ich ging mit Lio ein wenig auf und ab.
    Betongrauer Steinmantel, aus dem eine watteweiße Zwischenschicht wucherte mit lila Kristallzacken wie Reißzähne. Die Schnittöffnungen der kindskopfgroßen Drusen klafften wie Haifischmäuler. Die Fensterbank war über die ganze Länge des Raums damit voll gestellt, und in jeder von ihnen wucherte diese diffus weißliche Schimmelschicht, Nährboden und Halt der blassvioletten Dorne; sie stachen in den Hohlraum des Steins, ragten scharfkantig ins Dunkle, eine lila Schicht aus funkelnden Pusteln, geschwürartig wuchernd, der Pansen der Erdgeschichte. Glitzernder Raum einer kalten und sterilen Abgeschiedenheit. Mich würgte ein Brechreiz. Lios warmer Speichel am Hals beruhigte mich. Mit spitzen Fingern machte ich mich daran, eine nach der anderen alle Drusen umzudrehen, sodass sie auf ihren Schnittflächen zu liegen kamen und ich nur noch mit dem kartoffelartigen Äußeren konfrontiert war. Ich atmete langsam und tief. Der Arzt kam zurück, sah zum Fensterbrett hinüber, sagte jedoch nichts, sondern bat mich, Lio auszuziehen, dann wog und vermaß er sie, betastete die Fontanelle, hörte die Herztöne ab und leuchtete Mund und Ohren aus. Wieder verließ er das Sprechzimmer und blieb lange weg. Ich stand mit Lio auf dem Arm am Fenster und sah hinaus. Draußen saß eine Taube auf der Balustrade in der weißen Kacke ihrer Artgenossen und pumpte mit halb geschlossenen Augen.
    »Kann ich keine Verantwortung übernehmen …«, hörte ich den Arzt mit seiner leisen Stimme sagen.
    »Verstehe«, antwortete die Stimme der Praxishelferin, »ich rufe die Ambulanz.«
    »Frau Michaelis«, sagte der Arzt jovial, als er

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