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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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zurückkam und wiederholte, dass er jede Verantwortung für das Leben des Kindes ablehnen müsse, unterernährt und dehydriert, wie es sei. Das könne in diesem Alter innerhalb einer Woche zum Tod führen, ich solle im Wartezimmer Platz nehmen. Mütter mit müdem oder abschätzigem Blick ordneten die naturwollenen Kleider ihrer Kinder und forderten sie auf, mit dem Holzspielzeug, den Bienenwachskreiden oder den gesichtslosen Stoffpuppen zu spielen. Der ganze Raum atmete Missachtung. Vor dem Fenster saß eine kranke Taube und pumpte.

11
    Mit Blaulicht über die rote Ampel, um das Seebecken herum und durch das Bankenviertel stadtauswärts Richtung Krankenhaus. Spätestens jetzt, in diesem Krankenwagen, musste ich mir eingestehen, dass meine Normalitätssimluationen gründlich gescheitert waren. Wir fuhren in das Krankenhaus, in dem Lio geboren worden war. Von der Notfallstation wurden wir weiter in die Kinderstation geschickt, wo wir in einem blank gebohnerten Flur auf einem Metallstuhl warteten. Und warteten. Dann und wann hastete eine weiß gekleidete Person vorüber, das Quietschen ihrer Schuhe wurde leiser, dann warteten wir wieder. Ich verwandelte mich in einen der Metallrohrstühle, während Lio in meinen Armen lag und starb. Oder doch nicht? Nach fünfeinviertelstunden, die mir wie fünf Tage vorkamen, trat ein Mensch im weißen Kittel auf uns zu und sagte Lios Namen.
    »Ein Notfall, dehydriert«, das hatte ich gelernt. »Lebensgefährlich.« Freundlich, anteilnehmend und mit professioneller Distanz bat mich der junge Arzt, doch für einen Augenblick Platz zu nehmen, es komme gleich jemand. »Ich sitze bereits«, murmelte ich in seinen Rücken, als er mit geschäftigem Schritt von uns wegquietschte. Wieder warteten wir.
    Ich musste eingenickt sein, jemand rüttelte an meiner Schulter. Ich sah auf und in die riesigen Augen einer Krankenschwester mit falbem Haar, das sie im Nacken mit einem Haushaltsgummi zusammengebunden hatte. Sie walzte uns voran den Flur hinunter und öffnete die Tür in ein Untersuchungszimmer. Wickeltisch, Liege, zwei Stühle, ein Holztisch am Fenster, leer bis auf ein Telefon und das Arzneimittelkompendium. Wieder warteten wir. Nach einer Weile begann ich in dem Buch zu blättern, suchte das Medikament, mit dem bei Paule die Geburt eingeleitet worden war, fand es jedoch nur als Prostaglandinpräparat, das zur Behandlung von Magengeschwüren verabreicht wurde. Ich fragte mich, was mit Paule geschehen war, vor und während der Geburt, und verfluchte mich, dass ich nicht dabei gewesen war. Weshalb war sie so seltsam geworden? Was war während meiner Abwesenheit passiert? Die Falbe streckte den Kopf zur Tür herein und bat mich, Lio auszuziehen.
    Bis aufs Hemd entkleidet, lag mein Kind auf einer Gummiunterlage und war so leicht in meinen Händen, dass sie zu schweben schien. Leichter und leichter wurde sie mit jedem Mal, da ich sie drehte und wendete, als wollte sie sich verflüchtigen, als wechselte sie den Aggregatzustand von etwas Festem in etwas Flüssiges und in einen Lufthauch. Ungefestigt, ungreifbar wie eine winzige Nebelschwade schwebte mein Kind, es streckte wie so oft die Arme und die Beine durch, dann hob es sich eine Handbreit in die Höhe, löste sich von der Gummimatte und schwebte über dem Wickeltisch. Es schwebte und stieg. Und stieg weiter auf. Ohne die Hand von seinem Bauch zu nehmen, kroch ich aus meinem Pullover und deckte mit ihm das Luftgebilde, das mein Kind war, zu, es schloss die Augen und schlief ein. Sitzen, warten, Rohrstuhl sein. Ich sah aus dem Fenster auf die graue Masse aus Quadern, die Häuser der Stadt. Schiefergedecktes aus Sandstein und Beton. Zwischen allen Farben des Graus von Bleigrau bis Rattengrau hingen ein paar Baumkugeln, streckte sich das lange Grün einer Hecke, das Geviert eines Gartens oder einer Grünanlage. Leute gingen herum auf hastigen Wegen in ein selbst gebasteltes Lebensglück, und über allem spannte sich das schwarze Gespinst der Leitungen für Trolleybusse, Trambahnen und Straßenlampen. Unter dem dichten Netz sich kreuzender Linien waren die Menschen nur noch als Schemen erkennbar. Ein murrendes Geräusch, Lios Brustkorb hob und senkte sich rasch. Ich wickelte den Ärmel meines Pullovers über ihren Scheitel, damit sie tiefer schlief, und zählte, als ich eine Turmuhr schlagen hörte, die Stunden, die wir hier waren und warteten. Lios Atem verlangsamte sich, ich sah wieder aus dem Fenster und begann eine Skizze.
    Endlich öffnete

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