Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
mir zu kitschig, deshalb ließ ich aus dem Gras eine verschreckte Bekassine aufsteigen. Und weil es eine internationale Tagung war, kombinierte ich in meinem Entwurf die Pflanzen und Tiere aus verschiedenen Graslandschaften der Erde. Wissenschaftliche Genauigkeit wurde während der ersten Präsentation der Entwürfe zum alles entscheidenden Kriterium für den Plakatentwurf, es gab Diskussionen nicht nur mit dem Auftraggeber, dem Institut für Agronomie der Technischen Hochschule, sondern auch innerhalb der Agentur, für die ich als visueller Gestalter arbeitete. Mehrmals musste ich zu Besprechungen antraben und mein Konzept verteidigen.
    Als ich von einem dieser Meetings nach Hause kam, hatte Paule das Kind wieder einmal vergessen. Dieses Mal hatte sie es mitsamt dem Wagen vor einer Apotheke stehen lassen. Ich fragte, was passiert sei. Sie sagte, dass sie sich einfach wohler fühle ohne Kind, vollständiger, sagte sie. So habe sie es vergessen. Schlicht vergessen. Es sei ihr aus dem Kopf entschwunden, und als sie es bemerkte, sei sie zurückgelaufen, aber da war es weg.
    Ich ging in die Apotheke und holte die Kleine zurück. Es war kurz vor Ladenschluss, und der Apotheker war schon dabei, die Polizei anzurufen. Ich hörte mir seine Ausführungen über Traumatisierungen in der frühkindlichen Bindungsphase an, nahm die Informationsbroschüre der La Leche Liga und die Vorhaltungen entgegen, meine Frau habe Milchpulver kaufen wollen, das sei doch nicht nötig, jede Frau könne stillen lernen, die Mütterberaterin würde da weiterhelfen, hier die Telefonnummer. Endlich ließ er von uns ab. Auf dem Nachhauseweg schlief Lio, mit der Faust im Mund, und ich zerriss den Zettel und die Broschüre und warf die Schnipsel hinter mich.
    Als ich zu Hause ankam, hatten Paule und ich den ersten Streit seit Lios Geburt. Es endete damit, dass sie das Kind nahm und sich mit ihm in ihrem Zimmer einschloss zum Beweis ihrer Mutterliebe. Ich telefonierte mit der Agentur, und wir einigten uns darauf, dass ich meinen Arbeitsplatz in die Wohnung verlegen und nur noch an zwei Vormittagen zu den Sitzungen ins Büro gehen würde, um den Stand der Projekte zu besprechen. Paule, die sich kontrolliert und beargwöhnt fühlte, ging mir aus dem Weg, und meistens nahm sie das Kind mit.
    Sie packte es in den Tragesack, zog die Wanderschuhe an und verschwand. Stundenlang war sie unterwegs und kam oft spät mit einem vor Hunger und Erschöpfung schlafenden Kind zurück. Lio erschien mir dünner und zerbrechlicher als nach der Geburt, und so war ich froh, als der erste Termin zur Nachuntersuchung anstand. Ich wollte Paule begleiten, doch war sie bereits frühmorgens zu einer ihrer Wanderungen aufgebrochen und kam erst am Abend zurück. Sie hatte Dreck an den Schuhen und roch nach frischen Äpfeln. Lio schlief. Wie sie mit der Seilbahn auf den Berg gefahren sei, den Höhenkamm des Albis entlanggewandert, zum Türlersee hinunter und um den See, das schilfbestandene Ufer, wie schön das sei. Und außer ihr kein Mensch unterwegs. Dass sie rot wurde, schrieb ich der Wärme in der Wohnung zu, doch fiel mir auf, dass in ihrem Haar Tannennadeln steckten.
    Ich wollte nicht streiten, erwähnte den versäumten Arzttermin nicht, sondern rief am nächsten Morgen in der Praxis an und vereinbarte einen neuen Termin für den Nachmittag. Doch dazu kam es nicht mehr, denn das war der Tag, an dem Paule mit dem Kind nach Paris fuhr. Um Abstand zu gewinnen, wie sie sagte. Leute besuchen, Schulfreunde, du kennst sie nicht.
    Drei Tage später schloss ich einen neuen Entwurf für die Grassodensache ab, den dritten, und rief, da ich nichts von Paule hörte, ihre Mutter an.
    Das Telefon klingelte im hintersten Winkel des Appenzell, es klingelte ins Leere irgendwo in jenem Weiler, in dem Paule aufgewachsen war und ihre Mutter immer noch mit dem Stiefvater lebte. Doch weder Gerda noch Hansueli waren da. Erleichtert legte ich wieder auf. Ich überlegte jetzt, die Polizei einzuschalten, verschob es aber auf den nächsten Tag und ließ es schließlich sein, denn das hätte das Fürsorgeamt auf den Plan gerufen, und dann hätte man uns das Kind weggenommen. Welchen Gefallen ich Paule damit getan hätte, wurde mir klar, als sie aus Paris zurückkam und Lio nicht mehr bei sich hatte. Mir fiel ein, wie oft sie es ein Affenkind genannt hatte und es immer wieder, wie der Arzt nach der Geburt, nach hinten hatte fallen lassen, um den Klammerreflex auszulösen. »Sieh mal«, und gelacht hatte

Weitere Kostenlose Bücher