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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Verlängerung der Fahrbahn sieben Kilometer, Wir bauen für Sie. Fränkische Schweiz, die Sonne im Rücken, scheint dem Mädchen auf den Kopf, es sitzt mit strahlendem Haar, strahlendem Gesicht.
    Ein schwingendes Auf und Ab. Die Neubauwohnungen mit ihren kargen Terrassen, die Hochspannungsleitungen der Eisenbahn, die Signale und das Blätterdach der Platanen. Alles schwang vor der tiefblauen Fläche des Himmels bis zum Umschlagpunkt und zurück in einer langsamen Bewegung und wieder nach vorn, als wäre die im Himmel abgebildetete Welt ein tanzendes Dach über uns. Als wäre die Stadt und mit ihr der Spielplatz und die Schaukel, auf der ich saß, ein stummes Schiff auf hoher See und ich der Kapitän, der seine Närrin auf der Oberfläche des Irrsinns dahinschaukelte. Ohne Navigationsinstrumente, ohne Karte, Lotblei, Kompass und Sextant schipperte ich orientierungslos dahin, keine Fortbewegung, nicht einmal eine Kreisbewegung, nur ein gleitendes Aufsteigen und Niedersinken in die Wellentäler der Luft. Ein ungepeiltes Schwingen und Auspendeln und Höherfliegen auf dem schmalen, an zwei Ketten befestigten Brett der Schaukel, die Kleine rücklings auf mir liegend, einen Singsang in den Ohren, der aus liebeskranken Amselkehlen, den elektrischen Drähten oder dem Kind drang, unterlegt vom fernen Tosen des Wasserfalls am Sihluferweg, und aus dem blaugrauen Dämmer des Sommerabends sprühte sanft ein Wasserfilm, der sich kalt und feucht auf uns legte, während Lio sich dem wiegenden, fliegenden Singsang überließ, und nur, wenn ich die Schaukel zu hoch schwingen ließ, versperrte sich die bodenlose Schwerelosigkeit in ihr, versteifte die Extremitäten, blockierte die Gelenke. Sie riss die Augen auf und atmete nicht mehr, ja selbst das schwarze Haar schien im Schreck erstarrt. Pendelte die Schaukel aus, legte ich den Arm um sie und strich ihr mit dem Finger über die feuchte Stirn, bis sich die Spannung seufzend löste. Wir blieben, bis die Straßenlampen aufflammten. Nur jetzt, zu dieser Abendstunde, wenn alle Kinder in der Badewanne oder vor den Nudeltellern saßen, sich schon die Zähne putzten mit den kleinen Bürsten, in die Pyjamahosen stiegen und die Spieluhr aufzogen, konnten wir sicher sein, dass der Platz uns allein gehörte. Dass keiner da war, der uns anschaute mit dem unverfrorenem Blick dessen, der noch wenig weiß und vieles lernen und verstehen will. Feucht und durchkältet gingen wir nach Hause.
    Lio lag mit einer Käpt’n-Blaubär-Wärmflasche im Bett und schlief, da klingelte es, und Mary kam.
    Am Küchentisch sitzend umschlichen wir uns in belanglosen Floskeln, bis wir endlich miteinander schliefen. Ich war sehr leise, doch Mary lachte mehrmals laut, was mich beunruhigte, nicht nur wegen Lio, die nebenan schnarchte, sondern weil ich das Lachen nicht zu deuten wusste, es schien kein Anlass vorhanden, ich selbst war wohl der Anlass, sie lachte über mich, lachte mich aus, da schwand mir alles. Unbefangenheit und Lust, Schwellung und der Schleier vor Augen, der sie mir schön gemacht hatte und begehrenswert. Ihr dicker Parfumölduft legte sich als erstickende Schicht klebriger Weiblichkeit auf mich und machte mir das Atmen schwer. Sie lachte wieder, diesmal mit geschlossenen Augen, ich kämpfte mich da durch, wütend und schweißgebadet, bis ich kam. Keuchen, Herzrasen, Scham und der heftige Wunsch, allein zu sein. Stattdessen befingerte ich sie, bis sie noch einmal wimmerte, dann schlief ich ein. Mary blieb bis zum Morgen, tappte in der Küche rum und bereitete ein puzzleartiges Frühstück zu. Sie wollte, nachdem wir uns seit mehreren Monaten aus dem Café kannten, das Kind endlich sehen.
    »Warum machst du so ein Wesen um das Kind? Ich habe schon ein Kind gesehen, stell dir vor, schon mehrere.« Und lachte laut. Ich ging mit der Flasche zu Lio und schloss die Tür hinter mir. Sie war in mich verliebt, liebte mich vielleicht sogar. Ich täuschte mich. Sie liebte nur sich selbst in meinen Armen und den Eindruck von Vollständigkeit, den ich ihr gab, doch das erfuhr ich erst viel später. Während Lio trank, hörte ich, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel.
    Nur ein Stück Karton, braungelbrot bedruckt, fällt aus der nachlässigen Hand ins Dunkel eines Blechkastens, stößt dort auf andere Papiere, Umschläge, weiß und grau und hellblau, fällt aus dem gleißenden Sonnenlicht eines afrikanischen Sommervormittags, fällt aus der samtschwarzen, sternenbeglänzten arabischen Nacht, fällt in die Finsternis

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