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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Lichtkegel der Straßenlampe schwankte im Wind. Die Regenfäden verdichteten sich und flatterten fast waagrecht durch ihn hindurch. Ein schaukelndes, flimmerndes Treiben. Paule war in dieser Nacht allein unterwegs gewesen und erst gegen Morgen zu mir zurückgekehrt. Stumm war sie neben mich gekrochen und augenblicklich eingeschlafen. Ein eigenartiger Geruch war von ihr ausgegangen, nach Holzfeuer und etwas breiig Säuerlichem. Ich lag still und ekelte mich. Nie hatte ich sie gefragt, was sie in jener Nacht getrieben hatte, doch am nächsten Morgen, als ich sie schlafend betrachtete, sah ich den abgerissenen Träger ihres Tops, der lose Stoff hatte sich nach unten gerollt und eine der bräunlichen Brüste freigegeben.
    Die Turmuhr schlug mit gedämpftem Schlag drei Uhr in der Nacht. Ich löschte leise das Licht, sah nach Lio, die mit zuckenden Lidern schlief, und legte mich ebenfalls zu Bett. Am darauffolgenden Morgen weckte mich anhaltendes Klingeln. Paule. Immer noch dachte ich zuerst an Paule, wie sie mit verregneten Haaren und schiefem Mund vor der Tür stehend lächelte und kein bisschen verlegen war. Mary, dachte ich dann. Alice, die Milch brauchte oder mich bat, die Zwillinge zu hüten. Der Postbote mit einem Einschreiben. Wieder mal. Lio war ebenfalls geweckt worden und greinte leise. Ich schüttelte den Kopf, um zu mir zu kommen, schälte das Kind aus dem Schlafsack und nahm es auf den Arm. Wieder klingelte es. Zwei Frauen standen draußen. Eine runde mit Lockenhaar, das wie eine Mütze ihren Kopf umhüllte, und eine schmale, drahtige, die sich mit einem Notizblock unter dem Arm im Hintergrund hielt, während die Rundliche zu sprechen anhob. Ich unterbrach sie sofort. Mir war nicht nach einer Belehrung über den nahenden Weltuntergang und nach den zur Wachsamkeit auffordernden Druckschriften, ich sei beschäftigt, sagte ich, als die Rundliche ihrerseits mich unterbrach und verlangte einzutreten, sie hätten sich telefonisch angekündigt. Lio hatte die Windel voll. Ich hätte keinen Bedarf an einem Gespräch über Glaubensfragen und müsse das Kind versorgen. Ich wandte mich an die Magere im Hintergrund, doch da fiel mir die Rundliche wieder ins Wort, sie kämen von der Invalidenversicherung und müssten das Kind in seiner alltäglichen Umgebung kennenlernen, um einen Anspruch auf Entschädigung abzuklären. Ich senkte den Kopf und roch, unauffällig, wie ich hoffte, an meiner Achsel, hatte auch den Eindruck, es stänke aus meinem Mund, doch ich öffnete den beiden und ließ sie eintreten.
    Abklären. Alles wurde abgeklärt. Der Status, das Wachstum, die Vaterschaft, der Verbleib der Mutter, der genetische Defekt, der ja, jeder konnte es sehen, nicht zu leugnen war. Die Entwicklungsverzögerungen, die Sehkraft, das Gehör, die Hüftluxation, der Kopfumfang, immer wieder der Kopfumfang. Tonusverteilung, Praxie, Lateralität, sensorische und propriozeptive Wahrnehmung, Gleichgewichtssinn, Kopfkontrolle, Auge-Hand-Koordination, Raumwahrnehmung, Reizverarbeitung, Anspruch auf Sonderschulung. Jetzt also: der Versicherungsanspruch.
    Ich ging den Frauen voraus, raffte schnell am Zeichentisch die Skizzen der letzten Nacht zusammen und öffnete ein Fenster. Dann bot ich Kaffee an, was sie höflich ablehnten, Wasser nähmen sie gern. Sie setzten sich nebeneinander, sodass ich ihnen gegenüber Platz nehmen musste, was eine Art Verhörsituation schaffte. Ich stellte Wasserkaraffe und Gläser auf den Tisch, schob ein paar Zeitschriften weg und entschuldigte mich kurz, um Lios Fläschchen zu wärmen, sie zu wickeln und mir was anzuziehen. An der Tür war ich den beiden in Unterhemd und Boxershorts gegenübergetreten und fühlte mich nun durch die rüstige Büroatmosphäre, die sie verbreiteten, nackter, als ich war. Während Lios Morgentoilette ließ ich mir Zeit, sammelte meine Gedanken, jetzt kam es auf Wohlverhalten an, wählte den rosa Strampelanzug und setzte mich mit Kind und Fläschchen zu den beiden, doch bevor wir begannen, entschuldigte sich die Rundliche und suchte die Toilette auf, die nicht geputzt war und wo auf einem Hocker ein paar Hefte von Druillet lagen. Nicht zu ändern. Keine Verheimlichungsabsicht zeigen. Es ist, wie es ist. Lio hatte ihre Flasche getrunken und sich, da wir keine Zeit zum Inhalieren gehabt hatten, sofort erbrochen. Schleim und Milch lagen als schlierige Glibberflecken auf dem Boden. Ich setzte Lio der Hageren auf den Schoß und machte mich daran, die Pfütze aufzuwischen.

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