Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Bogen Papier mit Klebestreifen fixierte und zu zeichnen begann. Eine Arbeit für die Stadtverwaltung. Einwohner und Touristen sollten zur Reinhaltung der öffentlichen Anlagen, besonders des Seeufers, angehalten werden. Auf Hinweis von Regula war ich zur Konkurrenzpräsentation eingeladen worden. Plakate, Broschüren, Flyer. Lustlos machte ich mich an die ersten Skizzen, noch ohne eine Vorstellung, wie ich das Thema umsetzen wollte. Bald spielte ich mit neuen Möglichkeiten, das Zellkernthema in einen Comic zu bringen. Den Gesichtslosen hatte ich auf Eis gelegt und stattdessen neue Informationen und Hintergründe aus medizinischen Fachzeitschriften, den Gesprächen mit Professor Haarkranz und seinem Aberrationenkatalog gesammelt. Bildmaterial vor allem zur fluoreszierenden In-Situ-Hybridisierung, elektronenmikroskopische Aufnahmen leuchtender Punkte vor schwarzem Grund, statistische Daten als Kurven, Kuchenschnitze, Säulen und Zickzacklinien. Kern, Zellkern, Atomkern, CERN , Doppelhelix, Kernspin, Kernfrüchte, Keime, Triebe, gläserne Chromosomenwürmer, die aus dem Kindermund wuchsen. Immer mehr wurden sie unter meinem spitzen Stift zu eigenständigen Lebewesen mit einem spielerischen Willen zur Improvisation. Das Zentrum des Lebens, das Innerste jedes Wesens als filigranes Mobile. Alles war möglich, alles veränderte sich. Frei flottierende Einzelteile, fluktuierende Kombinationen. Der Spieltrieb und die Kombinationslust. Das war es. Und das bedeutete auch: Normalität gibt es im gleichgültigen Reich der Genetik nicht. Alles ist veränderlich, und alles ist belegt mit den Begriffen der Zerstörung, der Abweichung, des Fehlens oder der Verirrung. Die vielgestaltigen Rekombinationsmechanismen, beschrieben mit dem Vokabular des Defizitären. Von Menschen, die die Abweichung im sozialen System als Fehler, als Verlust, als Unvermögen sehen. Jetzt erst zeigt sich, ob die Deletion oder Aberration eines Gens einer schönen Frau rote Haare beschert, Kurzsichtigkeit oder einen zu geringen Kopfumfang. Die Vorstellung, dass Erbmaterial geschädigt werden kann, setzt voraus, dass es einmal intakt war. Doch wie in einem Kaleidoskop, von Kinderhand langsam gedreht, verbinden sich die gläsernen Bausteinchen nur zu immer neuen Rosetten und Sternen, gefärbt durch den Hintergrund, vor dem sie betrachtet werden, beleuchtet durch die Lichtquellen, vor die sie gehalten werden, jederzeit sind sie mit leichter Handbewegung in neue Konstellationen zu bringen, und, ganz gleich, ob das Glitzerbild bestaunt wird oder sich ungesehen in der hintersten Regalecke des Kinderzimmers formiert hat, es ist nicht fehlerhaft und es fehlt ihm nichts. Würde dieser oder jener Stein entfernt, würden andere beigefügt, ihre Zahl verdoppelt, verdreifacht gar: Neue Ordnungen würden sich bilden, neue Muster und Bilder, und keines könnte als falsch, defizitär oder als Verirrung bezeichnet werden, da es keinen Prototypen, kein Urbild gibt.
Ich beschloss, mit dem Kaleidoskop zu beginnen.
17
Und begann dann doch mit dem Seeufer. Möwen im Uferschaum, Blässhühner zwischen Zigarettenkippen, zerdrückten Getränkedosen, leeren Plastikflaschen, überfüllten Abfallkübeln, zerfledderten Gratiszeitungen. Menschen unter grellfarbenen Papierschirmen, wie sie in Eisbechern stecken, Papierschiffchen auf dem See, ein nackter Fuß tritt auf eine benutzte Spritze, der Absatz eines Stöckelschuhs in ein vollgeschleimtes Kondom verwickelt, eine Plastiktüte, in der die übergroßen Kristalle von Kokainresten glitzern, Jungen kicken ein blutverschmiertes Taschentuch vor sich her, dribbeln zwischen leer gedrückten Sonnenmilchtuben, schmelzenden Eiskugeln und wimmelnden Ameisenhaufen. Sommer: Zeit des Zerfalls und der Zerstörung. Platte Fahrradreifen, Motorradhelme mit zersplitterten Visieren, Sonnenbrillen mit abgebrochenem Bügel, Frauenfüße mit aufgeplatzten Blasen an den Fersen in zu engen Sandalen – so würde ich nichts gewinnen, das wusste ich und zeichnete weiter. Zerbrochene Windrädchen, geplatzte Fußbälle, ausgefranste Espadrilles, verdreckte Badehosen, verrußte Grillroste, abgebrannte Fackeln, zertrampelte Lampions, Plastikgabeln mit gebrochenen Zinken, Hundekothaufen, feuchtwellige Groschenromanhefte, ein zerrissenes Trägerhemd und sein Schrecken.
Ein zerrissenes Trägerhemd in einer schwarzen Herbstnacht, als der Regen gegen die Fenster platschte. Die Lichter in den umliegenden Häusern waren nach und nach erloschen, nur der orangefarbene
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