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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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eines öffentlichen Briefkastens, wartet Stunden, Tage, Wochen, die Reise beginnt, die Reise endet, landet in einem grauen Plastikfach und wartet wieder, in Feuchtigkeit und Kühle, bis Stunden später sich ein Schlüssel nähert, Metall in Metallzylinder klickt, das Schloss sich dreht, den Kasten öffnet und eine andere Hand ihn nimmt und dreht und wendet. Regentropfen fallen auf das Braungelbrot, und linsenförmige Pusteln wachsen aus dem bunten Glanzpapier. Das trübe Treppenlicht fällt auf die mit festem Druck in Blau auf Weiß geschriebenen Worte. Paules Schrift – drei belanglose Zeilen aus der marokkanischen Wüste, erstes Lebenszeichen, seit sie verschwunden ist. Adressiert an Lio Leutenegger, c / o K. Michaelis, Zürich, Schweiz. Liebe Lioba, am 2. April ist dein Geburtstag, zu dem ich dir gratuliere. Ich wünsche dir ein schönes Leben. Deine Paule. Dass die Karte nicht an mich gerichtet war, konnte ich verschmerzen. Dass die Adresse unvollständig war, ebenfalls. Dass sie zu spät kam, Lios Geburtstag war bereits Wochen vorbei, störte mich nicht. Was mich zuerst ratlos, dann zornig machte, war, dass Paule sich nicht an den Tag der Geburt erinnerte. Sie hatte vergessen, an welchem Tag sie schreiend auf dem Schragen gelegen hatte, den Teller klebriger Gnocchi neben sich, das medizinische Personal im Fruchtwasser schlitternd, dieser graue erste Apriltag des letzten Jahres, an dem sie unser Kind geboren hatte. Sie hatte es verlassen, sich aus dem Staub gemacht und sich nicht einmal seinen Geburtstag gemerkt. War es nicht so, dass Mütter, selbst eine wie Paule, mit dem Kind enger verbunden waren als die Väter? Dass man das Wachsen eines fremden Wesens im eigenen Körper nur bestehen kann, indem man einen Bezug zu ihm herstellt, eine vage Nähe, auch wenn sie auf nichts gründet als einen Mythos und ein paar Bewegungen, die die Bauchdecke nach außen beulen? Ein anderes Leben, das in einem herumschwimmt, Purzelbäume schlägt und, wie wir auf dem Monitor des Ultraschallgeräts sehen konnten, allein und schwerelos in seinem wässrigen Universum taumelt und schwebt. Die Fremdheit zwischen der Frau und dem, was einmal ihr Kind sein sollte, war mir plötzlich nicht nur verständlich, ich fand sie zwingend, und ich glaubte zu verstehen, dass das nur so auszuhalten war: hormongestützt, oxytocingeflutet. Dass die Irritation durch die Fremdbesetzung des eigenen Leibs nur so in eine Art Bindung überführt werden konnte. Kalte Wut. Dass eine Mutter in postpartale Depressionen verfiel, dass sie keine Bindung aufbauen konnte, dass das Stillen nicht gelang, dass sie sich überfordert fühlte von den Ansprüchen des Neugeborenen und der ständigen Abrufbereitschaft, der Aussicht auf schlaflose Nächte und jahrelange Unfreiheit, dass sie sich nicht darauf einlassen mochte, dass sie keine Idee von sich als Mutter hatte und das Kind verließ, das alles schien mir möglich, ich hatte es miterlebt. Dass sie sich aber das Datum der Geburt nicht merken konnte, schien mir ein Skandal, eine unerträgliche Banalisierung auch unserer Geschichte.
    Palmen und Oasen, Datteln, bunte Lichter, schwarzer Tee mit Minze und Zucker. Die Karte erzählte eine Kindergeschichte aus dem Orient, ein Gruß der Mutter ans Kind, das auf meinem Arm hockte, tropfte und vermutlich niemals würde lesen oder schreiben, sprechen oder gehen können. Nur eine Ansichtskarte, Gruß aus Nordafrika, braungelbrot, die Farben der Wüste und der klaren Hitze, in welcher die Luftspiegelung einer Liebe schwamm, die schon lange vorbei war. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich ihre Rückkunft nicht mehr erhoffte, dass ich sie nicht mehr erwartete, ja, dass ich mir wünschte, sie bliebe fort. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich sie hasste.
    »Lio, hör zu«, sagte ich und wartete, bis das Kind den Blick hob, dann las ich ihm die wenigen Zeilen vor, langsam, unbetont, Wort für Wort, und Lio nahm das, wie nicht anders zu erwarten war, teilnahmslos entgegen, steckte die Karte, die ich ihr reichte, mit einer Ecke in den Mund, zog sie wieder raus, schaute auf, als sich die Fahrstuhltüren öffneten, und ließ die Karte fallen. Nur ein Stück Karton, braungelbrot bedruckt, fiel auf den Gummiboden der Kabine. Ich ließ sie, wo sie war, und schloss die Wohnung auf.
    Mit dem schmalen grifflosen Feger wischte ich viele Male über die Glätte der Kunststoffplatte, kehrte nicht vorhandene Gummikrümel auf den Boden, bevor ich die flackernde Leuchtröhre anmachte, einen

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