Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, bin ich hingefahren, habe sie gegrüßt und verflucht.
    Die Schultern meiner Großmutter waren nach vorn gesunken, ihr Kinn lag auf der Brust. Ich beobachtete sie angespannt, bis ich sah, dass sich ihr Rücken nach einem langen Moment völliger Reglosigkeit sachte hob. Sie atmete noch. Ich warf die Kippe weg und fasste sie vorsichtig an der Schulter.
    »Es wird kühl, lass uns nach oben gehen.«
    »Go schte … Kolograbsi …« Sie schlang den Arm fest um das Kind. Behutsam wendete ich den Rollstuhl und brachte die beiden wieder nach oben.
    Während die junge Pflegerin sie wusch und umkleidete, wartete ich im Flur. Dann ging ich mich verabschieden.
    Aus dem Nähtischchen nahm ich die zwei Umschläge, die Fotos und die letzten Knöpfe aus den Fächern. Den großen Hornknopf, dessen wie von Mäusen angefressenem Rand man ansah, wie gern sie mit ihm gespielt hatte, drückte ich der alten Frau in die Hand und schloss ihre Finger darum. Sie öffnete die Augen, und ich zeigte ihr, was ich alles mitnehmen wollte. Sie nickte kaum merklich und bewegte tonlos die Lippen. Ich dankte ihr und küsste sie auf den welken Mund. Sie schob den Knopf von der einen in die andere Hand, betastete die schorfige Oberfläche und umschloss ihn wieder. Als ich mit Lio das Zimmer verließ, warf ich einen letzten Blick zurück. Sie schlief bereits. Seufzend machte sie einen rasselnden Atemzug und begann wieder leise knackend zu schnarchen.
    Zu Hause pinnte ich die beiden Schwarz-Weiß-Fotos über meinen Zeichentisch neben die Folie von Lios erstem Ultraschall. Eines zeigte meinen Vater mit etwa drei Jahren. Er saß in einem Zinkzuber und saugte am Waschlappen, meine Großmutter kauerte bei ihm, sie lächelten beide in die Kamera. Auf dem anderen waren meine Eltern zu sehen, wie sie nach der Trauung die Kirche verließen. Meine Mutter im langen Kleid mit einer Schleppe, die sich kniehoch um ihre Beine bauschte, mein Vater im Frack mit Fliege und Zylinder, der ihm etwas schief auf dem Kopf saß. Das wirkte keck, doch während sie beglückt strahlte, hatte er einen unbehaglichen, fast gequälten Gesichtsausdruck. Sie hielten sich an den Händen, und es sah so aus, als wollte er sie zu sich hinüberziehen, um sie festzuhalten, um sich an ihr aufzurichten. Sie war es, die ihn führte. Er war es, der sie in den Tod fuhr.
    Der Wettbewerb. Noch eine Woche bis zum Abgabetermin, und ich hatte außer ein paar rohen Skizzen noch nichts produziert, vor allem noch keine Entscheidung getroffen, welche der Ideen ich ausarbeiten wollte. Ich brachte Lio ins Bett, holte ein Glas Wasser aus der Küche, doch anstatt anzufangen, starrte ich lange die lächelnden Gesichter meiner verwünschten Eltern an. Die diffuse Wolkengestalt meiner Tochter.
    Das Gesehene ungesehen machen. Ungeschehen machen. Den ungeordneten Stapel mit den Schabarbeiten, dem Gesichtslosen, das Packpapier mit der Karikatur von Paule, den bereits gedruckten Comicband, die Stadtskizzen, die Blocks und Fingerübungen, alles, was da rumlag, begann ich mit Radiergummi und Japanmesser auszulöschen. Ich radierte, kratzte und schabte, ich wischte und rieb. Als da noch immer Konturen und Schatten meiner Zeichnungen zu erkennen waren, drückte ich die Spitze des Messers in das steife Papier und schnitt einen, zwei, viele schmal und schmaler werdende Längsstreifen davon ab, schob das Metalllineal millimeterweise über die Zeichnung, schnitt feinste Streifen und diese wiederum in kleine Schnipsel, Fäden, Krümel, löste meine ganze Arbeit in einem Konfettiregen aus winzigen Rechtecken, Rauten, Parallelogrammen auf. Ich kratzte und schabte Linien, Zeichen, Flächen und Worte von Pauspapier, Karton und Skizzenblöcken, schabte Häuser, hastende Gestalten, verwischte Gesichter weg, kratzte Sprechblasen, Speedlines und Sound Effects aus, ich radierte und schnipselte und wischte alles zuerst mit der Handkante, dann mit der ganzen Länge des Arms auf den Boden.
    Pergamentschnipselschnee, bunter Druckseitenregen, schwerfälliger Kartonkrümelstaub, alles rieselte über die Kante auf den Boden hinab.

23
    Erst als es dämmerte, sank ich ins Bett und schlief traumlos, bis mich Lios Selbstgespräche weckten. Rasieren, das Kind in der leeren Badewanne, Kaffee trinken, das Kind im Hochstuhl, an den Zeichentisch, das Kind durch den Papierschnee meiner pulverisierten Zeichnerexistenz robbend, er flatterte auf und stob umher, das Kind tropfte dahinein, patschte drin herum,

Weitere Kostenlose Bücher