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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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auf die Großmutter im seidenen Morgenrock. »Na, komm.« Ich folgte ihr und schlüpfte in ihr großes Bett, wo ich auf der Seite, die einst dem Großvater gehört hatte, zwischen die kühlen Decken glitt. Sie steckte die Zipfel der Decke unter meinem Kopfkissen fest, sodass ich nichts mehr hörte und, wollte ich das weiche Nest nicht zerstören, mich auch nicht bewegen konnte. Solcherart stillgelegt, schlief ich sofort ein. In diesen Nächten konnte es passieren, dass mich nach Stunden ein leises Schnarchen, ein eintöniges Schnurcheln weckte, und ich hörte in jedem Atemzug die immer gleiche Botschaft. Alles ist gut, es gibt nichts mehr zu tun. Es war dasselbe Schnarchen, ein leises Knarren bei geschlossenem Mund, das uns heute, über zwanzig Jahre später, auf dem Flur empfangen hatte, noch bevor wir das Zimmer betreten hatten. Alles ist gut. Es gibt nichts mehr zu tun.
    Ich öffnete die Gardinen und kippte das Fenster, um den Stick des Sterbezimmers hinauszulassen. Dann setzte ich mich ans Bett.
    Neben den standardisierten, an Wand und Boden fest verschraubten Einheitsmöbeln hatte die Großmutter ein Nähtischchen stehen, ein Erbstück, an dem sie noch lange nach ihrer Übersiedlung ins Altenheim gesessen und Socken gestopft, Kleider ausgebessert und geplatzte Nähte geflickt hatte. Die intarsienbelegte Tischplatte konnte in der Mitte aufgeklappt werden, dann gab sie ihr Innenleben preis: eine Lade mit zahlreichen Fächern, in denen sich Nähseiden aller Farben, Knöpfe, Sicherheitsnadeln, Stickschere, silberne Fingerhüte, die Rasierklinge zum Auftrennen der Nähte, ein Nadelkissen und vieles andere befand, dessen Zweck mir immer ein Rätsel blieb. Hob man die Lade heraus, fand sich darunter eine zweite mit weiteren Fächern für die seltener gebrauchten Kurzwaren wie Haken und Ösen, Saumbänder, Hosengummi, Schneiderkreide, Häkelnadel, Zickzackschere, Bügelflicken und ein Klemmwerkzeug, mit dem sie mir, als es Mode war, Nieten in meine Jeans gehämmert hatte. Die Alte streichelte Lio immer noch und hatte leise zu singen begonnen. » Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen«, kaum mehr kenntlich durch ihre vom Schlaganfall verwaschene Aussprache. Ich sah auf die Uhr, kurz vor vier, keiner würde uns stören jetzt, und öffnete den Nähtisch. Nichts war mehr da von dem bunten Reichtum, den ich an regnerischen Nachmittagen ausgeräumt, sortiert und wieder eingeräumt hatte, bis mir langweilig wurde und ich sie mit dem Knopfspiel dazu verführte, die Arbeit niederzulegen. Auf einer gefalteten Decke drückten wir mit dem Rand eines Mantelknopfs auf die Kante der kleineren Hemden- und Wäscheknöpfe und ließen sie in hohem Bogen in ihr Fach zurückspringen. Sie benutzte einen Hornknopf von der Größe eines Fünfmarkstücks, ich bevorzugte einen kleineren Perlmuttknopf, durch dessen scharfen Rand Druck und Flugrichtung des Springknopfs genau dosierbar waren, sodass sie in scharfem, schnellem Bogen auf Anhieb in ihr Fach sprangen. Fast immer gewann ich das Hüpfspiel. Stoffbezogene Wäscheknöpfe brauchten viel Druck und waren schwer zu steuern. Am schwierigsten zu beherrschen waren Knöpfe mit unebener Oberfläche aus Horn, Holz oder Metall, die außerdem nach einem plumpen Hüpfversuch wieder auf der Decke landeten, deshalb bekam man für sie zwei Punkte statt einem. Leicht und unkompliziert sprangen die kleinen, zahlreich vorhandenen Hemdenknöpfe, brachten jedoch nur einen halben Punkt.
    Sie waren es auch, die jetzt noch im Fach lagen. Die anderen, vor allem die wertvollen Perlmutt-, Messing- und Elfenbeinknöpfe waren bis auf einen alle weg. Auf den Seidenspulen waren nur noch strähnige Fadenreste, die verrostete Schere ließ sich nicht mehr öffnen, die silbernen Fingerhüte fehlten genau wie mein geliebter Perlmuttknopf. In den Ecken der Fächer sammelte sich Staub. Ich horchte noch einmal, doch niemand interessierte sich für uns. Unter dem Tischkasten zog ich nun an einem Holzknauf, der für eine Verzierung gehalten werden konnte, jetzt aber, als ich gleichzeitig gegen die Unterseite des Kastens drückte, ein Geheimfach öffnete, das dort in einem doppelten Boden eingelassen war. Ich entnahm ihm ein unverschlossenes Couvert mit Banknoten, zwei Fotografien und einen versiegelten Brief. Ich zählte die Scheine. Es war alles noch da. Das immerhin hatten sie nicht gefunden.
    Die Großmutter beendete ihren Gesang.
    »Willst du ein wenig rausgehen?«
    »Wil«, murmelte sie. Ihre Hand hob sich,

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