Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Linoleum quiekten meine Schuhsohlen leise. Es roch schal nach einer Großküchenmahlzeit aus Industrieteigwaren, Fertigsuppen und Blumenkohl, durchsetzt mit dem Chemiegeruch der Spülmaschinendämpfe. Die Tür war angelehnt, ich hörte das leise Gurgeln meiner Großmutter im Schlaf und stieß vorsichtig die Tür auf, wie ich sie aufgestoßen hatte in dem großen, dunklen Haus, das wir bewohnten. In allen Winkeln schwebte der Duft ihres Parfums, durch die geöffneten Fenster trieb der Sommerwind dunkle Gartengerüche. Magnolienblüten und der modrige Seerosengeruch aus dem Goldfischteich, vor dem dunklen Blätterdach der Bäume blähten sich die Gardinen, während sie auf dem königsblauen Damastsofa ein Nickerchen machte. Oft, wenn ich aus der Schule kam, klemmte ein Kärtchen zwischen den Jugendstilschnitzereien der Eingangstür. » Bin im Garten«, wo ich sie in Gummistiefeln und mit einer blauen, im Rücken über Kreuz gebundenen Schürze, nach Kartoffeln grabend, fand. Wegen ihrer Form nannte sie sie Mäuse, und auf ihren süßen Erdgeschmack wollte sie nicht verzichten. Sie schob sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn und stützte die Hand aufs Knie, um sich aufzurichten und mich zu sich zu winken, damit ich ihr half, die gelben Knollen aus der trockenen Erde in den Korb zu klauben und im Keller in die Hurden zu schütten. Ein kleines Henkelkörbchen voll würde sie zum Abendessen kochen und mit Kräuterquark und frischem Holunderkompott servieren, dessen Eisengeschmack mich würgte. Das zauberte sie mit einem Schluck Bier weg: Nimm eine kleine Stärkung.
Sonnenlicht fiel in kreisrunden Flecken durch den Ahorn und flirrte über dem Teich in zittrigen Schlangenbewegungen, die Trauerweide warf die schmetterlingshaften Flatterblättchen mit weichem Schwung auf die Wasseroberfläche. Wieder wischte die Großmutter die Strähne ihres aschblonden Haars aus der Stirn und rieb sich dabei einen fingerbreiten Streifen Erde quer über die Stirn. Ihre Frisur hatte sich gelockert und bauschte sich im Widerschein der Nachmittagssonne hell um ihren Kopf, während sie, wie ein peruanisches Andenweib auf den Gummistiefelfersen hockend, im Erdreich scharrte. Ich warf den Schulranzen auf den Kiesweg, holte Schaufel und Handrechen und einen Eimer aus dem Schuppen und half ihr die Kartoffeln zu ernten. Wir arbeiteten schweigend, bis sie, behutsam tastend, allerlei heikle Fragen nach der Schule, den Mädchen und meinen Zeichenkünsten zu stellen begann.
An den eingefallenen Wangen, den Schläfen und der kantig hervortretenden Stirn der Großmutter klebten nasse Strähnen, ihr Schädel wirkte groß und kindlich über dem geschrumpften Gesicht, die hellen Ohren wuchsen wie schrumpelige Gemüseblätter aus dem faserigen Haargewirr. Ich beugte mich zu ihr und flüsterte in diese Wirsingohren, dass wir da seien, dass alles gut sei und dass es nichts mehr zu tun gebe auf dieser Welt. Ihre besprenkelten Wurzelhände zuckten, als suchten sie etwas. Ich legte Lio auf ihren Bauch und sah den hastenden Fingern zu, bis sie den Arm, die Schulter, das Köpfchen gefunden hatten. Mit kundigem Griff packten sie das Kind unter den Achseln und zogen es näher. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie öffnete die Augen, und ich bediente die Stellvorrichtung des Bettes. Ihr Oberkörper fuhr langsam in die Senkrechte, sie barg das Kind an der knochigen, sich rasch hebenden Brust. Ihr Atem ging rasselnd und schwer.
»Di go schtenei pra«, flüsterte sie und streichelte Lios schwarzen Schopf.
Nachts allein im dunklen Zimmer fürchtete ich mich vor dem Rauschen der Bäume, vor den Käuzchenrufen und den vereinzelten Lichtstreifen, die vorüberfahrende Autos an die Decke über meinem Bett zeichneten. Wie schleierhafte Spinnennetzgebilde bewegten sich die Gardinen und der Mantel auf dem Bügel, der matte Schrankspiegel und der Stuhl mit den Kleidern über der Lehne bäumten sich zu schwarzen Gestalten auf, rückten näher, ich konnte die Augen nicht schließen, lag starr und angespannt, bereit für den Kampf, der gleich beginnen würde. Unter die seltsamen Geräusche mischte sich das Knarren der Dielen, und ein Lichtspalt unter der Tür kündigte die Großmutter an, die nach mir sah, bevor sie zu Bett ging. »Sind sie wieder da?«, fragte sie und legte mir ihre kühle Hand auf die Stirn. Ich nickte stumm. Sie sagte, ich solle mich aufsetzen, und zündete die Nachttischlampe an. Der gefältelte Stoffschirm warf warmes Licht in den Raum und
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