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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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dann legte sich der Aufruhr und klebte zwischen und auf den Holzplanken fest. Am frühen Nachmittag hatte ich weitere zwanzig Blätter geleert und zerstückelt, ich packte Lio in den Tragsack, schaffte sie in die Logopädie, eilte mit ihr nach Hause zurück und machte weiter. Max rief an und erinnerte mich an eine Sitzung wegen der Museumszeitschrift um vier, ich habe sie doch nicht vergessen?
    »Neinnein«, log ich, »ich kann aber nicht kommen, Lio, du verstehst.« Max schwieg.
    Ich zwickte Lio in den Arm, und sie begann zu jammern.
    »Sie ist krank, wir müssen zum Arzt.« Er sagte nichts. Ich schwieg ebenfalls. Lio heulte.
    »Ich komme nächstes Mal dazu, sag den andern einfach, ich sei krank«, sagte ich und fügte nach einem Atemzug hinzu: »Bitte.«
    »Ist gut«, sagte Max indigniert und legte auf.
    Lio stank. Ich begann sie zu wickeln, als es klingelte. Mary stand draußen. Sie trug das Haar offen und war von vielen Besuchen in der Badeanstalt gebräunt. Das Blumenmuster ihres Sommerkleids leuchtete auf der nackten Haut, die Füße mit lila lackierten Nägeln steckten in weißen Sandalen mit hohen Absätzen. Ich öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, doch sie drückte dagegen und streckte den Kopf, um in die Wohnung zu schauen.
    »Hast du Besuch?« Ich verneinte.
    »Kann ich reinkommen?«
    »Lieber nicht.«
    Lio blubberte.
    »Da ist doch jemand.«
    Ich wusste nicht, warum ich nicht wollte, dass sie Lio sah. Weil sie nackt war vielleicht. Weil ich nicht schon wieder abgeschätzt und beurteilt werden wollte vielleicht. Weil ich der unabhängige Zeichner sein wollte, als der ich mich ausgegeben hatte und trotz der Schnipseleien noch immer zu sein glaubte.
    »Jetzt komm schon.« Sie schob einen Fuß in die Tür und hielt eine Champagnerflasche vor mein Gesicht. »Ich hab uns auch was mitgebracht.«
    »Mary, jetzt nicht, ich ruf dich an, es passt grad wirklich nicht.«
    Sie rümpfte die Nase.
    »Was ist das?«
    »Weiß nicht.« Hinter mir klirrte es, ich sah über die Schulter, konnte aber nichts erkennen.
    »Komm. Es fängt gleich an zu regnen.« Das war gelogen. Seit Wochen hatte es nicht geregnet, und noch immer hing die Hitze wie ein Samtvorhang, kein Lüftchen regte sich.
    »Ja«, sagte ich und lauschte. Kein Ton von Lio, kein Geräusch. Es stank. »Ich muss …« Als ich die Tür schließen wollte, klirrte es wieder, und Lio heulte. Ich ließ die Klinke los und rannte in ihr Zimmer. Da war sie nicht. Auch nicht in meinem Schlafzimmer, im Arbeitszimmer. Keine Spur vom Kind.
    »Konny!« In Marys Stimme lag Panik und ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Beklommenheit und Ekel. Sie stand in der Küchentür und sah auf Lio hinab, die unter der Spüle saß, inmitten von Kartonschachteln, Bierflaschen und dem halb gefüllten Müllsack. Bis auf ihr im Nacken gebundenes Hemdchen war sie nackt. Blubbernd hielt sie eine leere Bierflasche in der Hand und versuchte in die Öffnung zu sehen. Der ungestützte Oberkörper schwankte, sie drohte jeden Moment umzukippen. Mary stand in dem Durcheinander mit der Frische und dem Duft eines Blumengartens, der dünne Stoff ihres Kleides schwang um ihre Knie, als sie ein paar Schritte zurücktrat und mich mit einem Ausdruck ansah, der sagte: Tu was. Wieder klingelte das Telefon. Josefine sagte, sie komme nach Zürich und würde mich gern sehen. Ob ich auch …?
    Ja, oh ja! Als würde sich eine Nebeldecke heben, auflösen, verflüchtigen. Wann? Erst im Herbst, der Nebel sank, sie hätte sich einfach mal melden wollen, müsste an mich denken. Oft. Die Sonne brach durch. Klarheit, große Klarheit stellte sich ein. Und wie zur Bestätigung fiel hinter mir mit einem lauten Klacken die Wohnungstür ins Schloss. Mary war gegangen. Den Champagner hatte sie mitgenommen.
    Der kleine Körper war glibschig vom Seifenwasser. In die Scheiße zu fassen machte mir nichts mehr aus. Zu oft hatte ich es machen müssen, doch wenn ich gewusst hätte, wie viele Male mir noch bevorstanden, wäre ich aus dem Fenster gesprungen. Oder hätte das Kind hinausgeschmissen.
    Stattdessen wickelte ich es in ein Badetuch, zog ihm frische Kleider an, setzte es in sein Bett, wo es bald darauf einschlief, während ich den Küchenboden mit Chlorwasser putzte, die Fenster aufriss und mich mit Rasierwasser bespritzte. Moschus, Ambra, Tabak und Zitrone, ich verrieb es auf Hals und Händen. Dann öffnete ich ein Bier und setzte mich auf den Balkon. Dort saß ich lange im Abendlicht und mehrmals geschah es, dass ich

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