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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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als flöge sie aus eigenem Antrieb, und sank vor ihrem Gesicht nieder, hob sich wieder und gestikulierte in meine Richtung.
    »Tament.« Ich deutete das als Einverständnis und holte den Rollstuhl. Als ich sie aus dem Bett hieven und hineinsetzen wollte, klopfte es, die Tür sprang auf, und die fröhliche Stimme einer Praktikantin rief: »Abendessen.« Mit einem Tablett betrat sie das Zimmer, ihr blonder Pferdeschwanz baumelte im Takt der Schritte. Sie stellte das Essen ans Bett der Großmutter und schickte sich an, der Alten, die wieder zu singen begonnen hatte, das Essen einzulöffeln.
    »Lassen Sie nur, ich mach das schon.« Ich setzte Lio neben die Großmutter und begann sie zu füttern. Die Praktikantin lachte erleichtert und ging. Lio tappte der Großmutter auf den Bauch, dann in den Teller, er kippte, und das Mus aus Bratensauce, Kartoffelbrei, püriertem Fleisch und Gemüse verteilte sich auf dem Tablett und der Bettdecke. Ich kratzte alles zusammen, wischte die bräunlichen Flecken weg und fütterte sie, bis sie zum Zeichen, dass sie genug hatte, die Lippen zusammenpresste. Aus der Schnabeltasse nahm sie noch etwas Tee, dann zwei Löffel der Apfelmusquarkspeise. Den Rest verfütterte ich an Lio, und was sie übrig ließ, aß ich selbst.
    Ich hüllte beide, Großmutter und Urenkelin, in eine Wolldecke und hievte sie in den Rollstuhl. Umständehalber verzichtete ich darauf, die Alte anzuziehen, steckte nur die Füße in Pantoffeln, bürstete das Haar, zog mit einem eingetrockneten Lippenstift die Lippen nach und gab ihr den Handspiegel. Sie war nicht zufrieden. Der Hut! Im Wandschrank fand ich einen kleinen nachtblauen Filzhut mit gepunktetem Schleier, den ich ihr aufsetzte. Jetzt schlang sie den Arm um Lio, und wir fuhren los. Im Flur brannten, obgleich es erst fünf war, die Lichter. »Di go schtenei pra«, sagte sie und deutete auf die schnell vorüberziehenden Lampen. Unbemerkt vom Personal gelangten wir zum Fahrstuhl und in den Garten, wo am Nachmittagshimmel bereits die venusbegleitete Mondsichel stand. Die Amseln sangen, und die Alte sang mit. Tonrein zitterte ihr Organ im verblassenden Sommertag. Lio saugte am Ärmel ihres Nachthemds, und mir fiel alles wieder ein. Seht ihr den Mond dort stehen, er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Ich legte der Großmutter meine Jacke um die Schultern. Still war es auf einmal, nur in der Ferne fuhr ein Auto vorüber, bis es abbog und die Stille sich wieder ausbreitete.
    Aus der Dunkelheit tauchten die Umrisse mächtiger Metallplatten auf, Schattenrisse menschlicher Figuren. Einzelne Personen, später eine Kleinfamilie, ein halber Clan, viele Paare, wie sie eines gewesen waren. Über die schwarzen Metallplatten läuft in wulstigen Schlieren die rote Farbe, Blut, das aus den Köpfen, den Körpern tropft. Damals standen die noch nicht. Damals, als sie durch den Abend fuhren und durch die einbrechende Nacht, sie hatten eine weite Reise gemacht, sie hatten ans Meer gewollt, um für eine Zeit nichts mehr zu tun zu haben mit der Welt – auch mit mir nicht. Sie liebten sich, und sie genügten einander ganz. Schnurgerade durchschnitt die Route nationale die sanfte Hügelkette, verschwand in Senken, erklomm den nächsten Hang, tauchte unter die Landschaftsoberfläche und erhob sich wieder, gab den Blick frei auf die Landschaft. Das durchgezogene Mittelband, die Pfosten, die sich mit den Pappeln abwechselten und in einem regelmäßigen Rhythmus über die Seitenfenster huschten. War es ein Traktor, ein Milchtransport oder ein Lieferwagen auf dem Weg nach Limoges, der sie aufhielt? Er war ein draufgängerischer Fahrer, kannte keine Furcht. Immer wieder scherte er aus, spähte nach vorn, ließ einen um den anderen entgegenkommenden Wagen vorbei, schob sich ungeduldig zurück in die Kolonne und rückte wieder auf die Gegenfahrbahn aus, um jetzt endlich zu überholen. Er hatte den Lastzug zur Hälfte passiert, als er feststellte, dass sie erst am Anhänger vorbeiwaren, und drückte das Gaspedal durch. Der Wagen schien zu fliegen, die Kurve zog sich, und er beschleunigte noch einmal, fast hatten sie es geschafft, als ihnen aus der endlosen Biegung, unsichtbar bis dahin, ein anderer Personenwagen entgegenkam. In ihm saß eine einzelne Frau. Sie steht jetzt als düstere Silhouette auf der einen Seite der Unfallstelle. Auf der anderen stehen, blutüberströmt, meine Eltern. Kurz

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