Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
Allgemeinheit absolut tabu ist, Gewalt anzuwenden, ist es für einen anderen Teil fast überlebensnotwendig. Diese kulturelle Grenze verläuft in der Mitte unserer Gesellschaft und trennt die Ober- von der Unterschicht viel stärker als der Zugang zu Flachbildschirmen und Computerspielen, wobei ich absolut nicht ausschließen will, dass auch hinter gutbürgerlichen Fassaden geprügelt und geschlagen wird.
Nichtsdestotrotz ist zu beobachten, dass körperliche Gewalt meist nur dort öffentlich in Erscheinung tritt und als Bedrohung angesehen wird, wo sie als Mittel der Konfliktlösung akzeptiert ist. Und das ist vor allem in den sogenannten sozialen Brennpunkten der Fall. Während Friedrich und Luise schon von klein auf gesagt bekommen, dass Hauen böse, böse ist, heißt es bei Kevin, Murat und Ayshe, dass sie sich nichts gefallen lassen sollen und gefälligst zurückschlagen müssen, wenn ihnen einer dumm kommt. Das ist ein grundlegender Unterschied zwischen den verschiedenen Schichten und ein Fakt, den man beachten muss, denn dieser Unterschied führt zu zahlreichen Missverständnissen.
Menschen, die es nicht gewohnt sind, dass Unstimmigkeiten mit körperlicher Gewalt geregelt werden, reagieren komplett verstört, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden. Wer noch nie eine Schlägerei erlebt hat, für den stellt ein solches Verhalten eine absolute Bedrohung seiner gesellschaftlichen Grundwerte dar, und das zu Recht. Denn natürlich hat die bürgerliche Gesellschaft recht, wenn sie das Recht auf körperliche Unversehrtheit hervorhebt. Natürlich hat der Staat recht, wenn er auf seinem Gewaltmonopol besteht, und natürlich soll und muss jeder Mensch vor körperlichen Angriffen geschützt werden – und doch sieht es in der Realität einer Menge von Leuten ganz anders aus. Für sie gehört Gewalt zum Alltag, sie müssen sich damit arrangieren, sie müssen damit zurechtkommen und im Endeffekt müssen sie sogar lernen, sich durchzusetzen.
Ich selbst komme aus so einer Welt und einige meiner Freunde und Geschäftspartner kommen ebenfalls aus einer solchen Welt. Sie wuchsen in einer Umgebung auf, in der es hieß: »fressen oder gefressen werden«. Um zu überleben, legten sie sich eine gewisse Attitüde zu, die anderen im selben Viertel signalisieren sollte: »Mit uns fickt keiner.« Wenn ein solcher Mann nun also mit genau dieser Attitüde die normale Geschäftswelt der Immobilienmakler oder Musikindustriemanager betritt, dann kann es passieren, dass er eine Aura der Angst um sich herum verbreitet. Warum? Weil er mehr wirtschaftliche Macht hat? Weil er schlauer ist als all seine Geschäftspartner? Nein. Diese Stimmung entsteht, weil es den Anschein hat, er sei bereit, einen Konflikt notfalls mit körperlicher Gewalt zu regeln. Da den anderen, den normalen Geschäftspartnern, ein solches Verhalten aber absolut fremd ist, haben sie Angst. Sie kommen nicht damit zurecht, vielleicht auch weil sie den Eindruck haben, dass sie dem rechtsstaatlichen System nicht mehr trauen können. Sie zweifeln, dass der Rechtsstaat sie effektiv vor dieser Art von Bedrohung schützen kann, selbst wenn es dafür überhaupt keinen Grund gibt. Denn im Zweifelsfall wird Gewaltanwendung immer bestraft, aber man muss in dem Moment, im Moment der konkreten Bedrohung, auch den Mut besitzen, für diesen Rechtsstaat einzustehen oder zumindest danach zur Polizei gehen. Da geht man aber nur hin, wenn man den Glauben hat, dass die einem helfen können, und wenn man selbst genug Zivilcourage besitzt. An beidem fehlt es nach meiner Erfahrung und das ist schlecht.
Das ist ein absolutes Versagen der Zivilgesellschaft, denn natürlich müssen wir uns hinstellen und diesem Verhalten Einhalt gebieten, wenn uns wirklich etwas daran liegt. Wenn wir sagen, dass wir körperliche Gewalt nicht dulden wollen, dann müssen wir das auch im Angesicht einer potenziellen Bedrohung aussprechen. Auch wenn wir selbst den Einsatz von körperlicher Gewalt kennen, auch wenn wir selbst aufgrund unseres Umfelds und unserer Herkunft an körperliche Gewalt gewöhnt sind, ist sie trotzdem falsch. Denn natürlich haben wir nichts gewonnen, wenn auf der Straße nur das Recht des Stärkeren zählt. Wir brauchen eine Zivilgesellschaft, die auf Gewalt verzichtet und fähig ist, ihre Konflikte friedlich beizulegen, genauso wie wir auf internationaler Ebene friedliche Lösungen finden müssen, um unsere Konflikte zu beenden. Aber leben wir in einer friedlichen Welt? Ziehen wir unsere
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