Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
man sich melden. Erika und Werner L. konnten sich ungefähr vorstellen, was das bedeutete. Bei dem Gedanken an die nicht gefassten Täter fühlten sie sich gedemütigt und irgendwie wie Freiwild. Insbesondere Erika behielt aber die Hoffnung auf künftige Ermittlungserfolge. Sie dachte, dass die Masken vielleicht aus ihren Träumen verschwinden würden, wenn sie den Tätern bei einem Gerichtsprozess einmal ins Gesicht schauen könnte.
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Kampf mit den Asservaten
P rost Neujahr«, dachte ich, als ich am 3. Januar die Statistik meines Dezernats zu den offenen Verfahren bekam (jeder Staatsanwalt erhielt sie einmal im Monat). Ich hatte mich (auch über die Feiertage) wirklich bemüht, ein paar offene Verfahren aus dem Bauchwehstapel abzuschließen. Da waren sogar zwei richtig umfangreiche Gürteltiere dabei. Alles nur, um dann in der neuesten Statistik zu lesen, dass meine offenen Verfahren von hundertfünfundvierzig auf hunderteinundsechzig angestiegen waren. Ich drückte eine Träne weg. Weinen oder ein Schreikrampf kam in meiner Situation nicht in Betracht. Damit hätte ich mich endgültig als Problemkind zu erkennen gegeben. Aber wie konnte das sein? Ich drückte noch mal kräftig auf den Stapel mit den Bauchweh-Akten und ging dann zwei Schritte zurück. Doch! Der Stapel war eindeutig kleiner geworden. Vielleicht wenigstens ein bisschen?
Das Problem war, dass ich nicht nur mit offenen Verfahren zu kämpfen hatte. Die Staatsanwaltschaft ist zugleich die aktenführende Behörde. Das heißt, dass alle Akten nach rechtskräftigem Abschluss (gegebenenfalls nach Durchlaufen mehrerer gerichtlicher Instanzen) wieder in der staatsanwaltschaftlichen Abteilung landen, die den Fall angeklagt hat. Wegen möglicher Wiederaufnahmeverfahren müssen die Akten noch meist zehn oder zwanzig Jahre aufbewahrt |38| werden. Sie landen ganz oben im Kriminalgericht Moabit, verteilt über siebenundzwanzig Dachböden, viele so groß wie Markthallen. Akten mit einem Gewicht von vielen hundert Tonnen drücken schwer auf das Kriminalgericht. Ich bekam zum Beispiel eine rechtskräftig abgeschlossene Akte, bestehend aus dreizehn Bänden (vielleicht zweitausendfünfhundert Seiten) mit einem Zettel der Asservatenstelle. Die fragte an, was denn nun mit einer bestimmten schwarzen Taschenlampe und der blauen Baseballmütze passieren solle. In vielen Ermittlungsverfahren werden irgendwann irgendwelche Gegenstände beschlagnahmt, sei es als Beweismittel oder um sie als Nebenstrafe vom Täter zugunsten der Staatskasse einzuziehen. Diese werden dann unter einer bestimmten Nummer in der Asservatenstelle eingelagert. Die befindet sich wiederum ganz unten im Sockelgeschoss des Kriminalgerichts, in nicht weniger als fünfundzwanzig Kellern und zwei Innenhöfen. Würde man also die im Kriminalgericht verhandelten Straftaten als Theaterstücke ansehen, wäre im Sockelgeschoss die Requisitensammlung. Ab und zu verirrt sich die Presse oder das Fernsehen dorthin. Dann zeigen die Mitarbeiter stolz die Tür, durch die Bubi Scholz im Vollrausch seine Frau erschossen hat, oder die Bimmelbahn, mit der Arno Funke alias Dagobert sein Erpressergeld abholen wollte.
Die schwarze Taschenlampe und die blaue Baseballmütze lagen also auch irgendwo hier unten. Die Frage war nur, was aus den Gegenständen werden sollte? Ich stellte sie Mona, die gerade im »Café Jura« weilte. Mona meinte, ich solle sie einfach dem Eigentümer oder gegebenenfalls dem letzten »Gewahrsamsinhaber«, wie es in den Richtlinien heißt, zurückgeben, und verschwand mit ihrer dampfenden Kaffeetasse. |39| Nicht sonderlich beruhigt schaute ich auf die dreizehn Bände Akten in einem großen Karton, der meinen gesamten Tisch bedeckte. Anna sagte, ich müsse die Akten zunächst auf Protokolle von Personen- oder Wohnungsdurchsuchungen durchforsten. Da werde man meist hinsichtlich der Eigentümerfrage fündig. Genervt wies ich darauf hin, dass das doch Stunden dauern könne. »Jens würde sagen, dass die Herkunft von Taschenlampe und Baseballmütze mal in Ruhe geprüft werden muss«, erwiderte sie lachend. Woher Anna diesen Humor nahm, konnte ich mir nicht richtig erklären. Immerhin saß sie schon seit einem Dreivierteljahr täglich zwölf Stunden im Büro.
Nach vier Stunden hatte ich es dann geschafft. Vier Stunden für ein bereits abgeschlossenes Verfahren! Das konnte ich mir nicht jede Woche leisten. Aber die Anfragen aus der Asservatenstelle kamen in regelmäßigen (und nicht allzu großen)
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