Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
ließen. Jedes Mal, wenn er eine Ermittlungsakte zuklappte und zur Staatsanwaltschaft zwecks Einstellung zurücksandte, fühlte er sich irgendwie schuldig. So wie jetzt, bei diesem Raubüberfall auf den kleinen Laden von Erika und Werner L. Kopfschüttelnd ging er nochmals die Akte durch. Keine brauchbaren Täterbeschreibungen und keine verwertbaren Spuren am Tatort. Sie hatten die Mieter der Nachbarhäuser abgeklappert, in den umliegenden Geschäften Zettel ausgehängt und eine kleine Belohnung ausgelobt. Sogar eine Anzeige hatten sie im Lokalteil zweier Berliner Zeitungen geschaltet. Neue Ermittlungsansätze gab es dadurch nicht. Selbst in den Masken wurden keine ausreichenden Spuren für eine Überprüfung gefunden. Er hatte nichts! Irgendwie roch die Sache nach Serientätern. Tatort und Verhalten der Opfer waren vorher |43| ausgekundschaftet worden. Bei Anfängern hätte der Widerstand der Ladenbesitzer zu mehr erkennbarer Nervosität und Fehlhandlungen geführt. Die Täter waren vielleicht nicht eiskalt, aber schon ganz schön abgebrüht. Sie hielten sich an ihren Plan, in dem auch Fluchtrouten festgelegt waren. Diese Erkenntnisse nutzten ihm jedoch nicht viel. Es gab zu viele Raubüberfälle, die ähnlich abliefen. Er unterschrieb seinen Abschlussbericht und klappte die Akte zu. Der Fall war erledigt. Jetzt konnte nur noch ein Wunder helfen, aber das hier war ja kein Kriminalroman.
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Eine Sackgasse
M itte Januar hatte ich mir ein grobes Gerüst mit Entwürfen von Standardverfügungen zurechtgelegt, mit denen ich ungefähr die Hälfte der täglich eingehenden Akten selbstständig bearbeiten konnte. Sie hielten dann auch meistens der Gegenzeichnung durch Jens stand. Bei den übrigen Akten musste ich Kollegen konsultieren. Das war ganz schön oft der Fall und ich konnte nicht ständig Anna oder Jens fragen. Die hatten schließlich auch noch ihre eigenen Akten zu bearbeiten. Also ersuchte ich auch die anderen Staatsanwälte unserer Abteilung um Rat.
Da war zum Beispiel Jörg, der zwei Zimmer weiter saß. Er war als hartnäckiger Ermittler bekannt und ziemlich effizient. Zu allen erdenklichen Ermittlungsschritten hatte er bereits eine Musterverfügung als Computermaske entworfen. Für mich eine wahre Fundgrube, da Jens diese Verfügungen meist ohne Weiteres gegenzeichnete. Manchmal ging mir seine Effizienz aber etwas zu weit. Einmal wollte er mir sein selbst entwickeltes, fünf Seiten langes Abkürzungsverzeichnis nahebringen. Jörg meinte, auf die Dauer könne man eine Menge Zeit sparen, wenn man anstelle einer gebräuchlichen Abkürzung von beispielsweise drei Buchstaben seine Spezialabkürzung mit nur einem oder zwei Buchstaben benutze. Ich lehnte dankend mit dem Hinweis ab, dass ich den Kopf derzeit für Fremdsprachen |45| einfach nicht frei hätte. Jörg zeigte sich äußerst verständnisvoll.
Wenn Jörg ein hartnäckiger Ermittler war, dann wirkte Gerlinde (aus der Sicht eines Anfängers wie mir) fast fanatisch. Sie hatte das Zimmer neben Jörg. Als ich sie das erste Mal um Rat fragte, war ich mir nicht sicher, ob ich die Ermittlungsmaßnahme A oder B durchführen sollte. Gerlinde erklärte mir mit feurigen Augen und einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, dass die Ermittlungsmaßnahmen A bis einschließlich F durchzuführen seien, eine persönliche Besprechung mit dem ermittelnden Polizeibeamten anberaumt werden müsse, neue Ermittlungsverfahren gegen die Personen X, Y und Z einzuleiten seien und so weiter. Nach eineinhalb Stunden verließ ich völlig fertig ihr Zimmer. Das Problem mit Gerlinde war, dass sie einen sehr aufwendigen Ermittlungsstil hatte. Sie ermittelte in alle nur denkbaren Richtungen. Daran war mit Sicherheit nichts Falsches. Die Personaldecke in den sogenannten Buchstabenabteilungen musste man aber als äußerst dünn bezeichnen. Jedem Staatsanwalt wurde pro Monat eine hohe Zahl an neuen Verfahren zugewiesen. Was dazu führte, dass Gerlinde an den Grenzen der Belastbarkeit (selbst eines erfahrenen Staatsanwalts) wandelte und rüttelte. Sie hatte mit zweihundertfünfzig offenen Verfahren mehr als doppelt so viele wie jeder andere routinierte Staatsanwalt in unserer Abteilung. Es gab häufig Beschwerden, weil sie des Öfteren einzelne Verfahren liegenlassen musste und nicht alle Fälle ordnungsgemäß bearbeiten konnte. Es ging einfach nicht. Andere Abteilungsleiter hätten sie dafür wahrscheinlich gerädert. Nicht so unser Abteilungsleiter Berndt. Auf die Beschwerden musste
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