Auf das Leben
geworden, und ein Teil meines Körpers will sich zur Ruhe legen. Er ist zu müde, um weiterzumachen. Aber wenn ich gehe, möchte ich, dass Sie diese Erde in meinen Sarg legen. Masha weiß, wo die Tüte ist. Werden Sie das erlauben?«
Ich nickte nur. Selbstverständlich. Selbstverständlich. Selbstverständlich.
Ich ließ den Keks liegen. Ich ließ den Tee stehen. Ich verabschiedete mich höflich von Sigi und Masha Kaminski, ich schüttelte ihre blasse, papierene und geäderte Hand und bedankte mich für ihre Gastfreundschaft, dann fuhr ich zurück zum Büro.
Debbie schaute auf und sagte, es gebe zwei wichtige Anrufe für mich.
Sie würden warten müssen. Ich musste erst noch etwas erledigen. Ich schloss die Tür, griff nach dem Hörer und wählte.
»Hallo, Mum?«, sagte ich. »Nein, nein, es ist nichts los, ich wollte nur wissen, wie es dir geht.«
Das Tier in mir
Ich erinnere mich nicht mehr, warum wir es getan haben, aber aus irgendeinem Grund lasen wir in einem Gesprächskreis, der sich um einen religionsübergreifenden Dialog bemühte, den 36. Psalm. Anschließend kam ein Mann zu mir und stellte mir eine Frage.
»Rabbi, was sagt der jüdische Glaube über den Unterschied zwischen Menschen und Tieren? In diesem Psalm, den sie heute gelesen haben, steht, dass Gott Menschen und Tieren hilft.«
Das ist eine interessante Frage und keine leichte, die man einfach so beantworten kann. In der ersten Schöpfungsgeschichte in der Genesis - man darf nicht vergessen, dass wir zwei haben, woraus hervorgeht, dass keine von beiden die volle Wahrheit sagt, etwas, das viele religiöse Fundamentalisten nicht zu verstehen scheinen - steht, dass Gott die Tiere vor den Menschen erschaffen hat. In der zweiten Schöpfungsgeschichte wird erzählt, Gott habe die Menschen nur dazu geschaffen, damit sie den Garten pflegen und über die Tiere herrschen. Einerseits wurden wir alle erschaffen, sind also allesamt Geschöpfe Gottes, andererseits gibt es aber auch eine klare Unterscheidung, eine Hierarchie. Wir würden sagen, dass zwar alle Kreaturen nefesch haben - also Leben, Instinkt und Überlebenstrieb, und zwar sowohl individuell als auch als Spezies. Das heißt, wenn es sein muss, leben wir Geschöpfe Gottes auf Kosten anderer, die getötet und verzehrt werden müssen, um unser Überleben zu sichern, dass aber nur der Mensch nach Gottes Ebenbild erschaffen wurde und die Fähigkeit zu abstraktem Denken, zur Sprache, zum Wissen um Gut und Böse hat. Nur Menschen haben eine neschama, eine individuelle, persönliche Seele. Nur wir sind unsterblich, nicht jedes Tier, jeder Vogel, jeder Fisch oder jedes Insekt. Nur wir Menschen müssen unser Handeln verantworten.
Ich begann also, die Sache zu erklären, und er lauschte höflich. Es war klar, dass er lange darüber nachgedacht hatte. Manche Leute sind überzeugt, dass ihr geliebter Hund oder die geliebte Katze irgendwo in der kommenden Welt auf sie warten, aber nur wenige würden jede Schnecke und jede Schnake treffen wollen, die sie auf Erden umgebracht haben, oder jede Kuh, von der sie ein Steak gegessen haben, jedes Huhn, von dem sie einen Schenkel verzehrt haben. Darin liegt der Grundwiderspruch. Wie kann jemand glauben, dass Tiere auch eine Seele haben, und zugleich Fleisch essen? Die Buddhisten nähmen solche Vorstellungen tatsächlich sehr ernst, erklärte ich, und stellten alles Leben auf die gleiche Stufe. Das Leben eines Tieres sei ihnen ebenso wichtig wie das eines Menschen, während Gott den Juden in der alten Zeit lediglich befohlen hatte, kein menschliches Wesen zu opfern - obwohl Menschen immer wieder im Krieg getötet wurden. Gewisse Tiere sollten die Juden nach Gottes Willen aber töten und opfern und sie auch essen. Es ist ein religiöses Gebot, an Pessach ein Lamm zu töten und zu essen. Das macht deutlich, dass Gott die Tiere unter die Menschen stellt. Noah hat einige Tiere gerettet, aber nicht nur, um sie zu bewahren, eher damit er sie hinterher schlachten und essen konnte.
Es entwickelte sich ein interessantes Gespräch, wie es gelegentlich bei einer Begegnung mit einem gebildeten und geistig offenen Partner entstehen kann. (Leider sind die anderen Arten von Gespräch viel häufiger, nämlich Debatten mit den Naiven und Überzeugten, oder wenn man Leuten etwas Offensichtliches erklären muss, zum Beispiel fragte mich einmal eine Dame, ob auch wir Juden eine Bibel hätten.)
»Hat der Mensch nicht außerordentliches Glück«, sagte der Mann, »dass
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