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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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ich ihr das schuldig bin. Aber ich kann das Meiste nicht vorweisen, was das Antragsformular im Gemeindebrief verlangt. Keinen bürgerlichen Namen, keinen hebräischen Namen, keine Daten, nichts. Ich frage mich, was ich tun kann?«
     
     
    Die Plakette ist mittlerweile angebracht. In der dritten Reihe, es ist die vierte von unten. Auf ihr steht: »Hella. Gestorben 1944.« Nicht mehr und nicht weniger. Aber sie beweist, dass es jemandem wichtig war, dass sie gelebt hat, und dass jemand getrauert hat, als sie starb. Viel mehr kann niemand für sich erwarten.

Und er setzte ihn in den Garten... 3

    Mr Kaminski kam ins Krankenhaus, und dann wurde er wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Allerdings nicht deshalb, weil er geheilt war, sondern weil man nicht viel tun konnte. Aus diesem Grund sagte ich an einem Nachmittag Anfang November im Büro zu Debbie, dass ich zu ihm fahren würde, um nach ihm zu sehen.
    Die Kaminskis besaßen ein ziemlich großes viktorianisches Haus und dazu einen beachtlichen Garten mit großen Lorbeerbüschen und Bäumen entlang der Auffahrt. Es war ein schöner, trockener Herbsttag. Sigi und ich setzten uns in den Wintergarten, seine Frau Masha brachte uns Tee und Kekse mit Vanillecreme, und wir schauten hinaus auf den rückwärtigen Garten. Ein Mann, ihr Gärtner, grub ein paar abgestorbene Pflanzen aus. In einer Ecke brannte ein Feuer, blauer Rauch kräuselte sich durch die Büsche hindurch. Blätter und Zweige wurden verbrannt, bevor sie verrotteten. Sogar durch das Fensterglas konnten wir das Prasseln hören.
    In solch einer Situation, bei so einem Besuch, weiß man manchmal nicht recht, wie man ein Gespräch anfangen soll, wie man höflich plaudern soll oder welches Eröffnungsgambit am wenigsten offensiv ist. »Was für ein hübscher Garten«, sagte ich und nahm einen Keks. »Arbeiten Sie selbst auch viel im Garten?«
    »Nein«, antwortete er und lehnte sich in dem knarrenden Rohrstuhl zurück. »Ich habe Gartenarbeit noch nie gemocht. Dementsprechend wenig Lust hatte ich auch, irgendetwas im Garten zu tun. Es ist wirklich schön, einen Garten zu haben, aber wir haben immer jemanden gehabt, der die notwendigen Arbeiten erledigt.«
    Wie viele Mitglieder unserer Gemeinde hatte er einen leichten ausländischen Akzent behalten, aber sein Englisch war perfekt. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Vielleicht sollte ich Ihnen erklären, Rabbi, warum ich Gartenarbeit hasse. Schließlich wissen wir beide, dass mein Zustand ziemlich ernst ist und dass die Schmerzmittel mich nicht wieder gesund machen können. Es gibt so viel zu sagen, und es fällt mir so schwer, das alles in Worte zu fassen. Deshalb möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Wann haben Sie Ihre Mutter zum letzten Mal gesehen?«
    Ich war ziemlich verblüfft, antwortete aber, das sei erst in der letzten Woche gewesen.
    »Gut, dann lassen Sie mich Ihnen erzählen, wann ich meine Mutter das letzte Mal sah. Sie, mein Bruder und ich wurden in das gleiche Lager gebracht. Es war, wie ich jetzt weiß, ein ziemlich kleines und unbedeutendes Lager, ein Außenlager, und ich bezweifle, dass sich irgendjemand überhaupt daran erinnert. Aber wir mussten dort arbeiten. Man hatte uns voneinander getrennt, aber einmal sah ich sie durch einen Stacheldrahtzaun und rief ›Mama! Mama!‹ Ich glaubte, sie habe mich gehört, weil sie sich umdrehte, aber ein Wachmann stieß sie weiter, und so sie sah mich nicht.«
    Ich nickte und schwieg. Was soll man darauf sagen?
    »Und dann«, fuhr er fort, »kam der Februar 1945, und es zeigte sich, dass alle Angst hatten. Irgendwoher wussten wir, dass die Russen kommen würden, und ich war dem Kommando zugeteilt, das am Rand des Lagers Massengräber öffnen musste. Wir mussten die harte, gefrorene Erde aufgraben, die Leichen herauszerren und sie aufeinander häufen. Eine andere Gruppe goss Benzin über die Leichenberge und zündete sie an. Sie sollten verbrennen und die Asche verstreut werden, aber weil kein Wind wehte, mussten wir einen Teil der Asche vergraben. Es war eine schreckliche, schreckliche Arbeit - nicht wegen der Kälte, nicht weil wir alle schon so unterernährt waren, sondern weil wir wussten, was mit uns passieren würde, wenn wir fertig wären. In der zweiten Grube, unter drei Schichten Leichen, sah ich dann meine Mutter wieder. Zum letzten Mal. Ich erkannte sie an ihren Haaren - wir waren nicht alle kahl geschoren, wissen Sie, und gegen Ende des Krieges hatten sie aufgehört, uns zu scheren - und an

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